Duisburg. .

Ein Jahr ist die Katastrophe her – und für die Opfer der Loveparade bleibt Normalität ein Fremdwort. „Sehr viele Verletzte haben Depressionen bis hin zu Suizidgedanken“, weiß Notfallseelsorger Uwe Rieske.

Fast genau ein Jahr ist vergangen, seit bei der Massenpanik auf der Duisburger Loveparade 21 junge Menschen den Tod fanden. Weitere 500 Frauen und Männer wurden verletzt, als am 24. Juli 2010 die Katastrophe über das so friedlich geplante Techno-Fest hereinbrach. Heute würden viele Menschen in Duisburg gern zur Normalität zurückkehren. Doch die Opfer können das nicht. Für sie dauert der Schrecken auch zwölf Monate nach dem Unglück an. „Den Eltern, die Kinder verloren haben, geht es immer noch sehr schlecht“, weiß Landespfarrer Uwe Rieske, der die Notfallseelsorge der Evangelischen Kirche im Rheinland leitet. „Sehr viele Verletzte haben Depressionen bis hin zu Suizidgedanken“, sagt er. „Sie werden ein Leben lang mit den Folgen des Unglücks zu tun haben.“

Rund 90 Angehörige von Todesopfern und 100 traumatisierte Personen betreut die Notfallseelsorge. Zu ihnen zählen Kerstin Mückshoff (42) und ihr Freund Detlev Keye (45). Gemeinsam mit der damals 15-jährigen Tochter von Mückshoff wollten sie auf der Loveparade Spaß haben, als sie plötzlich mitten ins Zentrum des Desasters gerieten. „So muss Krieg sein“, fasst Keye zusammen, was er damals erlebt hat. Der 45-Jährige erinnert sich noch genau, wie er in der dicht gedrängten Menge auf der Unglücksrampe stand: „Man hat geatmet und bekam trotzdem keine Luft, der Druck wurde immer größer, auch die Schmerzen.“

„Hilfe, holt mich hier raus, ich bin schwanger!“, habe ein Mädchen nur einen Meter vor ihm immer wieder geschrien. „Dann ist sie weggesackt. Ich habe gewusst: Sie ist tot.“ Wenig später kam Kerstin Mückshoff durch die Wellenbewegung der Masse, gegen die sich niemand wehren konnte, zu Fall. Ihr Freund stürzte auf sie: „Ich habe da unten gelegen, bin ohnmächtig geworden. Meine drei Kinder werden jetzt ohne Mama groß werden, hab ich noch gedacht“, sagt sie.

Die Kindergärtnerin brach bei der Arbeit zusammen: „Ich hätte schreien können“

Bis heute können beide nicht begreifen, wie sie und Tochter Mandy überlebt haben. Äußerlich sind sie mit Schürfwunden, Prellungen, einem gequetschten Knie glimpflich davongekommen. Doch die Psyche ist tief erschüttert. Kindergärtnerin Mückshoff brach Wochen später auf der Arbeit zusammen. Wenn Kinder mit ihr kuscheln wollten oder lärmten, erinnerte sie das an die Enge und den Lärm auf der Rampe. „Ich hätte schreien können“, sagt sie.

Monatelang konnte sie ihren Beruf nicht ausüben, versucht jetzt aber nach einem längeren Aufenthalt in einer Reha-Klinik die stufenweise Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess. Mandy musste vor kurzem die Kinder- und Jugendpsychiatrie aufsuchen. „Das Schlimmste sind die seelischen Verletzungen, die man eigentlich nicht wieder wegkriegt“, sagt ihre Mutter.

Fleischermeister Keye ist seit November krankgeschrieben, wurde von Alpträumen heimgesucht, konnte irgendwann nicht mehr schlafen. Eigentlich habe er gute Fortschritte in der Reha gemacht, sagt er. Auch die Wiedereingliederung habe er versucht. Doch sein Chef habe die Maßnahme abgebrochen. „Der versteht nicht, dass Menschen durch solche Situationen wie auf der Loveparade krank werden können. Der will mich loswerden“, sagt Keye. Es schwingt Bitterkeit mit.

Was wird aus dem Unglücksort?

Zu all den seelischen Schmerzen kommen finanzielle Sorgen. Mehrere hundert Euro haben beide durch ihre Erkrankung im Monat weniger. Kerstin Mückshoff ist empfohlen worden, ihre Arbeitszeit der Gesundheit zuliebe zu reduzieren. Wer kommt für den womöglich lebenslangen Verlust auf? Die Axa, Versicherung der Stadt Duisburg und des Veranstalters Lopavent, hat begonnen, mit kleineren Summen materielle Schäden zu regulieren. Keye erhält einen Ausgleich für den bis Mai aufgelaufenen Lohnausfall. „Es bewegt sich was“, sagt er.

Es gibt aber auch Kritik. „Das Verfahren ist nicht transparent“, moniert Jürgen Hagemann vom Verein Massenpanik Selbsthilfe, ein Zusammenschluss von Betroffenen der Loveparade. Er fordert die Offenlegung der Verträge zwischen der Axa und der Stadt, die den Zahlungen zugrunde liegen. Zudem ist völlig unklar, wann die Opfer Schmerzensgeld bekommen werden und wie mit den gesundheitlichen Schäden umgegangen wird, die bei manchen vielleicht erst Jahrzehnte nach dem Ereignis auftreten.

Und noch eine, für die Betroffenen wichtige Frage ist offen: Was wird aus dem Unglücksort? Er könnte verschwinden, wenn - wie geplant - auf dem Loveparade-Gelände ein Möbelhaus errichtet wird. „Der Ort soll erhalten bleiben, ich brauche ihn, um zu gedenken, um zu verarbeiten“, sagt Kerstin Mückshoff. So sieht das auch Notfallseelsorger Rieske. Die Mutter eines Todesopfers habe ihm sagt: „Hier bin ich meiner Tochter näher als an ihrem Grab.“ (dapd)