Duisburg. .

Susanne Brühl ist blind. Eine Shopping-Tour in der Duisburger Innenstadt wird mit ihr zu einem einzigartigen Erlebnis

Susanne Brühl geht für ihr Leben gerne Shoppen. Für Handtaschen hat sie ein besonderes Faible. Im Forum will sie sich nach einem neuen Exemplar umschauen.

Unzählige Male ist sie mit der Straßenbahn von Meiderich in die City gefahren. Dennoch traut sie sich den Weg ohne Begleitung nicht zu. Susanne Brühl ist blind. Mit 18 Jahren erkrankte sie am Grünen Star und verlor ihr Augenlicht.

Seitdem muss sich die 73-Jährige auf die Sehkraft ihrer Mitmenschen verlassen. Und das ist manchmal gar nicht so einfach. Vor allem, wenn sie mit einer Person zum ersten Mal unterwegs ist und diese weder ortskundig ist noch Erfahrung im Umgang mit Blinden hat. Da kommen einem die 20 Minuten Fußweg zur Straßenbahn-Haltestelle ganz schön lange vor.

„Können Sie die Container schon sehen?“

Susanne Brühl hat sich bei mir eingehakt. Sie umfasst meinen Oberarm. Trotz dicker Lederjacke spüre ich den Druck ihrer Finger auf meiner Haut. Die Rollenverteilung ist noch nicht ganz klar. Die Rentnerin kennt den Weg, aber ich muss sie führen. „Können Sie die Container schon sehen?“, fragt sie verunsichert. „Nein, immer noch nicht.“ Die Ungeduld steigt? Sind wir richtig gegangen? Endlich. Ich gebe Entwarnung: „Da stehen zwei Glascontainer.“

„Jetzt links in den Fußweg abbiegen. An der Autobahn entlang“, folgen auch schon ihre nächsten Anweisungen. Wenn Susanne Brühl einen Weg zum ersten Mal geht, lässt sie sich wichtige Punkte auf der Strecke beschreiben. Diese kann sie später aus der Erinnerung abrufen und anderen erklären, wo es lang geht.

Mit der Straßenbahn 903 geht es zum Hauptbahnhof

Die Rentnerin übernimmt gerne die Führung. Sie schätzt ihre Selbstständigkeit, auch damals schon, als sie noch die Vorzimmerdame des Präsidenten der Duisburger Wasser- und Schifffahrtsdirektion im Tausendfensterhaus war. Nach der Scheidung von ihrem Mann, hat sie ihren Sohn alleine großgezogen. Heute führt sie eine Wochenendbeziehung mit einem 68-jährigen Mann aus Düren. „Meiner“ sagt sie immer, wenn sie von ihm spricht. Mit der Beziehung auf Distanz scheint sie aber zufrieden zu sein.

„Sehen Sie die Unterführung schon? Da müssen wir rechts abbiegen. Dann kommt links eine Rolltreppe. Legen Sie meine Hand auf das Treppengeländer. Dann können Sie runterfahren“, erklärt sie mir das weitere Vorgehen. Mit der Straßenbahn 903 geht es zum Hauptbahnhof. „Möchten Sie sich setzen?“, fragt sofort eine hilfsbereite Mitfahrerin und ist schon dabei, ihren Platz für die Sehbehinderte zu räumen. „Nein, wir fahren nur zwei Stationen“, lehnt Susanne Brühl das Angebot ab.

„Guck mal, die hilflose blinde Frau mit den Flecken auf der Bluse“

Sie mag es nicht, wenn andere sie für hilfsbedürftig halten. Sie versucht, diesen Eindruck stets zu vermeiden. Das fängt schon bei der Kleidung an. Heute trägt sie eine beigefarbene Stoffhose, flache, schwarze Slipper und passend dazu eine schwarz-beige gemusterte Blazerjacke. Alles muss sauber sein. Wenn sie ein Kleidungsstück bei Regenwetter getragen hat, kommt es in die Wäsche. Im Haus trägt sie andere Sachen als draußen. „Wenn ich koche, kann ich nicht verhindern, dass meine Kleidung ein paar Spritzer abbekommt.“ Sie will nicht, dass die Leute sagen: „Guck mal, die hilflose blinde Frau mit den Flecken auf der Bluse.“

Am Hauptbahnhof übernimmt die Blinde wieder die Führung. „Wir müssen erst vier einzelne Stufen und dann zwei Rolltreppen hinauf. Rechts geht es zur Basarstraße.“ So nennt Susanne Brühl die Duisburger Fußgängerzone, die Königsstraße.

Ihre Fingernägel sind pastellfarben lackiert

Im Karstadthaus tastet sich die pensionierte Sekretärin an den Kleiderständern entlang. Sie greift nach den einzelnen Stücken. Lässt den Stoff durch ihre Finger gleiten. Alles, was Rüschen, ungewöhnliche Knöpfe und andere Verzierungen hat, erregt ihr Interesse. „Ich bin ein bisschen für Firlefanz. Vermutlich, weil ich den fühlen kann“, erklärt sie.

„Ladylike“ und „elegant“ möchte die zweifache Oma aussehen. Ihre braun gefärbten Haare trägt sie als Pagenschnitt. Ihre Fingernägel sind pastellfarben lackiert. Zwei Nägel hat die Designerin mit schwarzen Ranken und kleinen Strass-Steinchen verziert.

Jetzt geht es in die Handtaschenabteilung. Schwarz, kastenförmig und auf keinen Fall sportlich soll das Objekt der Begierde sein.

„Man kann die Blindheit in den Griff kriegen“

Susanne Brühl fasst das Material an. Riecht daran. Das Leder ist echt. Der Reißverschluss lässt sich leicht öffnen. Und doch muss sie trotz sorgfältiger Untersuchung schließlich auf das Urteil anderer vertrauen. „Ich bin auch schon nach Hause gekommen und meine Schwester hat gesagt: ‚Das Kleid steht dir überhaupt nicht’“. Dann ist sie schlecht beraten worden. Heute kauft die Rentnerin eine schwarze Ledertasche, die nach meiner Einschätzung keinesfalls sportlich ist.

Susanne Brühl kommt gut mit ihrem Alltag und Leben zurecht. Sie wirkt zufrieden. „Man kann die Blindheit in den Griff kriegen“, sagt sie. Und sie ist dankbar, dass sie ihr Augenlicht erst mit 18 Jahren verloren hat: „Ich habe den Vorzug, dass ich die Welt mal gesehen habe.“

Auf die Frage, ob es eine Sache gibt, die sie gerne einmal sehen würde, antwortet Susanne Brühl traurig: „Ich habe noch nie meinen Sohn gesehen.“ In ihrer gewohnt optimistischen Art fügt sie aber schnell hinzu: „Meine Hände sind meine Augen. Als er noch ein kleiner Junge war, kannte ich jedes Fleckchen an ihm.“