Duisburg..

Augenzeugen der Massenpanik im Tunnel nahe der Duisburger Loveparade erheben Vorwürfe gegen Polizei und Ordner. In den Krankenhäusern gingen zahllose Anrufe besorgter Verwandter ein.

Ricardo Jeschke sitzt vor dem Bethesda-Krankenhaus in Hochfeld. Er starrt auf sein rechtes Knie, das eingegipst ist, und nimmt einen hastigen Zug an einer Zigarette. „Hauptsache“, sagt der 19-jährige Duisburger und nimmt die Hand seiner Freundin Janine, „Hauptsache, wir sind dort herausgekommen.“ Dort – das sind die Unterführungen an der Karl-Lehr-Straße, die sich an diesem tragischen Samstagmittag in einen Todestunnel verwandelten. „Wir waren auf dem Gelände und wollten eigentlich gehen. Aber wir sind am gekennzeichneten Ausgang nicht herausgekommen, weil die Massen von draußen an derselben Stelle in unsere Richtung hereindrängten. Es kam keiner rein, aber auch keiner raus“, schildert Augenzeuge Jeschke.

„Also sind wir zum Notausgang. Aber die Sicherheitsleute haben uns weggeschickt und gesagt, dass wir zum Ausgang zurück sollten – obwohl wir ihnen geschildert hatten, wie voll es dort war“, erhebt Jeschke den ersten Vorwurf.

AFoto: Stephan Eickershoff/WAZFotoPool
AFoto: Stephan Eickershoff/WAZFotoPool © WAZ FotoPool | WAZ FotoPool

Gemeinsam mit Freunden ging er also auf Geheiß der Security zurück – und landete so wieder in dieser Menschenmasse, in der es kein Vor und kein Zurück mehr gab. In diesem Moment stürzte jemand derart unglücklich gegen Jeschkes Bein, dass ihm die Kniescheibe heraussprang.

„Höllische Schmerzen“

„Wir waren gefangen, hatten Platzangst und ich hatte höllische Schmerzen“, erzählt der Verletzte. Seine Freunde hätten sich schließlich in Richtung vom Gelände weg gegen den anstürmenden Strom mit aller Kraft, die noch in den erschöpften Körpern verblieben war, zur Kreuzung Düsseldorfer/Karl-Lehr-Straße durchgeboxt. Erst da blieb wieder etwas Platz zum Bewegen. Und zum Atmen.

„Vor mir trug einer einen Rucksack, gegen den ich ständig gequetscht wurde. Ich habe überhaupt keine Luft mehr bekommen“, erzählt die 17-jährige Janine Frisse, die Jeschke ins Bethesda begleitet hatte. Der am Knie verletzte wurde zunächst in eine Turnhalle gebracht, wo er eine halbe Stunde lang ausharren musste. Andere Notfälle waren akuter. Dann kam er endlich in einen Krankentransportwagen – und wartete die nächsten 30 Minuten. Erst dann war klar, welches Krankenhaus Kapazitäten hatte. Zum Glück war es das aus Sicht des Festivalgeländes nahe gelegenste: das Bethesda. Dort wurde er verarztet.

„Dem Veranstalter sind in der Organisation schlimmste Fehler unterlaufen. Man kann doch bei solch einer Riesen-Veranstaltung nicht nur einen Ausgang haben – und das ist dann gleichzeitig auch noch der Eingang“, sagt Jeschke und schüttelt fassungslos den Kopf. Und mit Verbitterung und Zorn in der Stimme schiebt er hinterher: „Duisburg hat sich maßlos überschätzt.“

Zahllose Anrufe

Von Bethesda ist es nicht weit zum St. Vincenz-Hospital in der Nähe des Dellplatzes. Es ist 21 Uhr. In der Pforte sind gleich zwei Kräfte damit beschäftigt, die zahllosen Anrufe zu bewältigen. Am anderen Ende der Leitung sind jedes Mal besorgte Eltern aus dem gesamten Bundesgebiet, die herausfinden wollen, ob ihr vermisstes Kind vielleicht dort aufgenommen wurde. Der Blick in den Computer bringt schnell Klarheit. Liefert aber in fast allen Fällen nicht das gewünschte Ergebnis. „Nein, der ist nicht bei uns aufgenommen worden“, sagt der Pförtner im Minutentakt. „Versuchen Sie es doch noch einmal bei den anderen Häusern in der Stadt.“ Statt die erlösende Nachricht zu erhalten, bleibt den Suchenden nur der Frust, die Angst. Und die quälende Ungewissheit.

Foto: Stephan Eickershoff/WAZFotoPool
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„Wir haben im Gedränge im Tunnel zwei Leute verloren. Wir wissen nicht, wo sie sind – und erreichen sie auch nicht über Handy. Ich mache mir echt Sorgen“, sagt Tilo. Der 31-jährige Essener war mit seiner Gruppe mittendrin, als die Massenpanik ausbrach. „Es ging alles so schnell. Plötzlich war nur noch Geschrei.“ Irgendwie kam er aber heraus. Und lehnt nun erschöpft gegen den provisorischen Zaun, der nur wenige Meter Luftlinie vom Todes-Tunnel entfernt liegt.

„Wie bescheuert geschrien“

Auf einem Bordstein am Rande der Düsseldorfer Straße sitzen Marcel (21) und Elena (18) aus Hamm. Er ist sichtbar aufgewühlt, sie noch total geschockt. Tränen fließen. Marcel erhebt schwere Vorwürfe in Richtung Polizei. „Wir waren mitten in der Masse. Oben stand eine Hundertschaft. Wir haben wie bescheuert geschrien, dass hier Bewusstlose liegen, dass die totgequetscht werden – aber niemand von denen hat uns geholfen.“ Seiner Meinung nach hätten die Polizisten „da reingehen und die Leute rausziehen müssen“.

Irgendwie quetschten sie sich zurück in Richtung Hochfeld. „Ich hatte Todesangst. Ich dachte: Fall jetzt bloß nicht um, dann ist es vorbei“, erzählt Elena. „Die Leute um uns herum haben geweint und geschrien und gewimmert. Es war ganz, ganz schlimm. Aber wir haben überlebt.“