Was sagen Duisburger Familien zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur fehlerhaften Berechnung von Hartz IV? Sie erzählen: In ihrem Alltag spüren vor allem die Kinder die Armut.
Kirmes, Kino, Weihnachtsmarkt? Ob sie mit ihren drei Kindern Nico (7), Lisa (13) und Tobias (18) überhaupt hingehen kann, das wägt Michaela Steinert (43) immer haargenau ab. Die Familie muss mit dem auskommen, was der Hartz IV-Satz zulässt. Da gehören solche kleinen Freuden, die für andere ganz normal sind, oft nicht dazu.
Auch beim Burger oder was Coolem zum Anziehen heißt es: „Sparen”, „warten bis zum nächsten 1.” oder „geht gar nicht”. „Gerade für die Kinder ist das hart”, erklärt die alleinerziehende Mutter, die bei der Duisburger Tafel für zwei Euro Stundenlohn arbeitet. Erst seit sie diesen Job hat, „haben wir ein bisschen Luft”, freut sich Michaela Steinert.
Sie fand es riesig ungerecht, dass die Kindergelderhöhung auf Hartz IV angerechnet wurde und ausgerechnet für die ärmsten Familien verpuffte. Die Duisburgerin hält für sehr wichtig, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil gerade auch Nachbesserungen für Kinder angemahnt hat.
Sie sind keine kleinen Erwachsenen, stellt das Urteil klar. Niemand, so die Richter, habe sich je ernsthaft die Mühe gemacht, den genauen Bedarf von Kindern unter Berücksichtigung von Schule, Bildung und Teilnahme am sozialen Leben zu ermitteln. Auch entdeckten die Juristen schwere „Webfehler” schon bei den Sätzen für die Erwachsenen. Es werde nicht klar, wie ein Bedarf genau ermittelt wird, und warum beispielsweise für Hartz-IV-Empfänger einfach eine 15-Prozent-Kürzung beim Strom zugrundegelegt werde. Mehr Transparenz, mehr Genauigkeit verlangt das Bundesverfassungsgericht. Es sagt aber nicht, dass es am Ende automatisch mehr Geld geben soll. Trotzdem hofft Michaela Steiner, dass die Veränderungen vor allem für Kinder positiv ausfallen: „Ganz schwierig ist für mich aus finanziellen Gründen, für frische, gesunde Ernährung zu sorgen. Auch Tickets, um zum Sport zu fahren, sind für uns einfach zu teuer”, macht die Mutter auf gravierende Einschränkungen aufmerksam, die wie die Schule für die Zukunft ihrer Kinder entscheidend sind.
Vier Kinder im Alter von 2 bis 14 Jahren hat Esref Avdosoji. Die Familie des in Jugoslawien geborenen Holländers muss mit Hartz IV auskommen, und „das ist hart”. Der 40-Jährige: „Wir versuchen im Haushalt zu sparen, Strom, Gas, Essen und Trinken.” Sein besonderes Problem: „Unsere Kinder fühlen die Armut.” Einen Schwimmbadbesuch müsse man sich zweimal überlegen, ein Wochenende wegfahren ist nicht drin. Ein Kilo Bananen könne er nicht für seine Familie kaufen: „Wir müssen die Hälfte nehmen.”
Der gelernte Krankenpfleger hofft nach dem Karlsruher Urteil auf eine Besserung, aber lieber wäre ihm ein Job: „Wir suchen Arbeit, wir wollen selbst Geld verdienen.” Aber er verzweifelt auch am System Arbeitsverwaltung. Fehler von Bescheinigung bis Zahlung, juristische Probleme, keine Aussicht auf Anerkennung im erlernten Beruf, keine Arbeitsangebote: „Die vermitteln uns nicht”, klagt er. Und stellt für sich und andere Betroffene klar: „Wir sind nicht dumm, wir haben nur keine Arbeit.”
KOMMENTAR
Mickerlohn und Menschenwürde
Die Wirklichkeit. Der Alltag. Sie sollen Maßstab sein für die Berechnung der Grundsicherung. Da haben willkürliche Abzüge nichts zu suchen. Wieso zum Beispiel brauchen Hartz-IV-Empfänger 15 Prozent weniger Geld für Strom als alle anderen? Weg mit Berechnungsgrundlagen, die niemand erklären kann. Das fordern die Bundesverfassungsrichter. Sie kümmern sich um Zahlungen, die Staatssache sind. Aber von Alltag und Lebenswirklichkeit oft weiter entfernt als Hartz IV ist mittlerweile in vielen Branchen die Lohnentwicklung. Überall arbeiten Fachkräfte für Hungerlöhne. Bei Hartz IV ist die Miete gewährleistet. Sicher können auch Geringverdiener Zuschüsse aus dem Sozialtopf in Anspruch nehmen. Doch es gibt Legionen von Arbeitnehmern, die wegen mickriger Bezahlung auf menschenwürdiges Leben verzichten müssen. Auch sie verdienen ein Grundsatzurteil. Ursel Beier