Duisburg. „Systemsprenger“ nennt man herausfordernde Kinder landläufig. Ihnen bietet das Diakoniewerk in Duisburg künftig Plätze in Intensivwohngruppen.

Kinder mit herausforderndem Verhalten sind für immer mehr Jugendämter auch selbst eine Herausforderung, ein „Systemsprenger“-Kind wurde Titelstar eines Kinofilms. Für Kinder wie dieses baut das Diakoniewerk Duisburg seit knapp einem Jahr sein Angebot aus. Anfragen kommen aus ganz Deutschland, weshalb eine weitere Wohngruppe bereits in Planung ist, derzeit aber Hürden wie Immobiliensuche und Mitarbeiterrekrutierung meistern muss.

In den Intensivwohngruppen in Homberg und Fahrn leben Jungen und Mädchen im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren. Sie leiden an seelischen Behinderungen, dem fötalen Alkoholsyndrom oder erlebten massive Vernachlässigung oder Traumatisierung.

Intensivwohngruppen des Diakoniewerks: Schreien, mit Sachen werfen, beleidigen

„Mit Sachen beworfen oder beleidigt zu werden, müssen wir aushalten“, sagt Jeffrey Klofac, der die Fahrner Gruppe leitet. „Jedes Kind hat sein Päckchen zu tragen und für manchen Ausraster holen wir die Polizei.“ Auch für die Anwohner sei ein laut schreiendes Kind nicht immer leicht zu ertragen, aber Ziel der Gruppen sei, Teil der Nachbarschaft zu werden. Die Fahrner zeigen sich solidarisch, luden die Gruppe sogar zu einer Hochzeit ein, freut er sich.

In der Regel sei der Alltag ganz normal: „Wir frühstücken, dann gehen die Kinder zur Schule, nachmittags begleiten wir sie zum Fußball oder zu Arztbesuchen“, beschreibt Klofac. „Wir arbeiten familienanalog“, ergänzt Svantje Schüttenheim, die die Homberger Gruppe leitet. Eltern können und wollen die Sozialarbeiter nicht ersetzen, aber sie können mit gutem Beispiel vorangehen.

Aufmerksamkeit schenken, auf Bedürfnisse eingehen, Emotionen zulassen. In den Herkunftsfamilien gebe es oft Ärger, wenn die Kinder ihren Frust herausließen. In der Gruppe lernen sie, „dass man auch mal wütend sein darf“. Der Verschleiß an Türen sei allerdings hoch, berichten die Leiter. Praktisch, dass zum Diakoniewerk eine eigene Tischlerei gehört.

Ein Psychologe arbeitet mit den Kindern – und den Mitarbeitern

Ein multiprofessionelles Team kümmere sich um die Stabilisierung der Kinder, helfe bei der Traumabewältigung, wirke deeskalierend, sei geschult im Umgang mit ADS, dem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, erklärt Fachbereichsleiterin Brunhilde Seitzer. Sechseinhalb Stellen sind für drei bis vier Kinder da, rund um die Uhr, an 365 Tagen im Jahr.

Ein Psychologe arbeitet mit den Kindern, aber auch mit den Mitarbeitern. Gerade das selbstverletzende Verhalten, wenn etwa ein Kind seinen Kopf wieder und wieder gegen die Wand schlägt, weil es nicht weiß, wohin mit seinen Gefühlen, das sei schon schwer auszuhalten, sagt auch Teamleiter Aljoscha Liebert.

Die Kinder seien so unsicher, dass sie immer wieder die Bestätigung brauchen: Diese WG ist das neue Zuhause, egal was sie angestellt haben oder noch anstellen werden. „Du bist willkommen“, sei ein Versprechen, das die Kinder oft hören müssen, dessen Grenzen sie vielfach austesten müssen. Belohnt werden die Betreuer mit vielen ersten Malen im Leben der Kinder: „Das erste Mal Fahrrad fahren, Crêpes essen, am Meer sein“, zählt Svantje Schüttenheim auf. Es ist der Lohn ihrer Arbeit.

Die Kinder kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten

Vorurteile über die Herkunft der Kinder sind übrigens nicht angebracht, betont Barbara Montag, die Geschäftsführerin des Diakoniewerks. „Die Kinder stammen aus allen gesellschaftlichen Schichten, aus allen denkbaren Milieus.“

Dass Eltern, die es sich leisten könnten, keine ersten Male wie die Fahrt ans Meer wagten, habe viel mit Scham zu tun: „Was denken die Leute, wenn mein Kind ausflippt“, beschreibt sie ein Hindernis. Gleichgültigkeit oder eigene gesundheitliche Probleme können die elterlichen Kompetenzen ebenso einschränken.

An die Bedürfnisse der Kinder tastete sich auch das Diakoniewerk heran, sammelte erste Erfahrungen mit einem Mädchen, das Seitzer als klassische Systemsprengerin bezeichnen würde. Diese Einzelbetreuung im Kempener Stadtteil Scheifeshütte sei die Keimzelle des neuen Angebots, sagt Leiter Aljoscha Liebert. Bis auf ein Kind, das zurück zur Mutter zog, leben alle Kinder seit 2019 in dieser Gruppe.

Die Kinder sind Systemspiegler, keine -sprenger

Das ist auch der Zukunftsplan für die neuen Gruppen. Da die Eltern aufgrund kognitiver oder anderer Einschränkungen den Erziehungsaufgaben nicht gewachsen seien, gehe es nicht um Reintegration, sondern um eine kontinuierliche Bindung, sagt Seitzer. Dafür sei auch wichtig, dass „die Eltern ihre neue Rolle akzeptieren“. Diese reiche von gelegentlichen Telefonkontakten bis zu regelmäßigen gemeinsamen Ferienzeiten.

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Was das Diakoniewerk hier macht, ist ein Austesten aller Möglichkeiten, für die System sprengenden Kinder dehnen sie dieses System. „Wir sprechen lieber von ‚Systemspieglern‘“, sagt Barbara Montag. Sie spiegeln, was in der Jugendhilfe anders gedacht werden muss.

Früher wurde in Wohngruppen ein Pädagoge auf neun Kinder angesetzt. Da blieb keine Zeit, jedem beim Zubettbringen noch was vorzulesen. Der Gedanke, dass diese Kinder vor allem Bindung brauchen, setzte sich erst langsam durch. Das Bundesteilhabegesetz habe auch politisch für ein Umdenken gesorgt und ermögliche finanziell mehr, ist sich Barbara Montag sicher. Die Investition wird sich auszahlen.

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