Duisburg. Eine 22-Jährige mit Behinderung macht der Arbeitsagentur Duisburg schwere Vorwürfe. Ihr Hilferuf geht im Netz viral. Das entgegnet die Behörde.
„Ich will doch nur arbeiten und nicht zum Mond oder so“, schreibt Katharina Trommen aus Duisburg auf Facebook und Instagram. Die 22-Jährige sucht einen Ausbildungsplatz und hat dafür einen emotionalen öffentlichen Hilfeaufruf in den sozialen Medien gestartet. Seit Ende November wurde dieser allein von Facebook-Nutzern 25.000 Mal geteilt. Sie schreibt darin: „Laut dem Arbeitsamt darf ich nicht arbeiten. Ich bin behindert und damit für das deutsche System auch heute noch ein Einzelfall.“ Auf Nachfrage unserer Redaktion macht sie der Agentur für Arbeit mehrere schwere Vorwürfe. Die Behörde allerdings bestreitet diese vehement. Doch am Ende unserer Recherchen gibt es anscheinend Hoffnung für Katharina Trommen.
Aber der Reihe nach: Wir treffen die Duisburgerin im Haus ihrer Eltern, wo sie uns von der angeblichen Diskriminierung durch die Agentur für Arbeit berichtet. Katharina Trommen erzählt, die Behörde sehe für sie keine Möglichkeit, eine betriebliche Ausbildung zu machen. Außerdem verweigere sie ihr eine Arbeitsassistenz, die ihr aufgrund ihrer Behinderung zustehe. Ihre Mutter Anke Trommen kritisiert zudem: „Die Sachbearbeiterin hat gefragt, ob sie sich nicht eine Windel anziehen kann. Dann brauche sie ja keine Assistenz. Das ist ja wohl ein Witz.“
Marcus Zimmermann, Geschäftsführer der Arbeitsagentur Duisburg, entgegnet entrüstet: „Die Informationen sind sachlich und sprachlich völlig falsch.“
Katharina Trommen: Infantile Cerebralparese führt zu Entwicklungsstörungen
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Weil sie bei der Geburt starke Hirnblutungen erlitten hat, sitzt Katharina Trommen im Rollstuhl. Die genaue Diagnose: Infantile Cerebralparese. Die Folge: motorische Entwicklungsstörungen.
Erst mit sechs Jahren lernte sie nach Angaben ihrer Mutter zu sitzen und zu sprechen. Mittlerweile hat sie viele Operationen und Therapien hinter sich, die ihre Verfassung verbessert haben. Mehrere Male war sie zum Beispiel auf der Karibikinsel Curaçao, um mit Delfinen zu schwimmen. Im Haus der Trommens hängen viele Fotos von diesen Reisen. Einige davon sind auch in einer alten Facebook-Gruppe zu sehen, in der die Familie damals um Spenden für die besondere Therapie gebeten hatte.
Von einer Förderschule für körperliche Motorik wechselte Trommen auf eine Gesamtschule und absolvierte 2021 ihr Fachabitur. Wenn man sie nach ihrem Traumjob fragt, kommt aus ihr heraus geschossen: „Am liebsten würde ich Musikvideos drehen und mit Instagram Geld verdienen.“ Doch von diesem Gedanken habe sie sich verabschiedet, weil sie keine schwere Kamera tragen könne. Im Alltag pflege ihre Mutter sie, sagt die 22-Jährige. Sie brauche zum Beispiel Hilfe, um auf die Toilette zu gehen.
Vorwürfe: Keine Assistenz für die Arbeit und digitale Ausbildung als einzige Möglichkeit
Deshalb laute ihr neuer Plan: eine Ausbildung im Bürobereich oder zur Reiseverkehrsfrau machen. „Ich bin im Kopf topfit und es gibt nichts, was mich an einer Bürotätigkeit hindern würde“, sagt die 22-Jährige. Ein paar Mal habe sie sich eigeninitiativ beworben – und nur Absagen bekommen. Weitere Bewerbungen habe sie nicht mehr geschrieben.
Warum? „Ich brauche auf der Arbeit eine Pflegeassistenz“, antwortet sie. „Solange ich diese Hilfe nicht genehmigt bekomme, kann ich mich nicht weiter bewerben.“ Trommen behauptet: „Aber das Arbeitsamt sagt, darauf habe ich keinen Anspruch.“ Ob sie sich woanders erkundigt hat – beim Jobcenter, Sozialamt oder karitativen Einrichtungen? „Nein, erst durch den Hilfeaufruf habe ich ganz viele Tipps bekommen, die wir jetzt nach und nach abarbeiten.“
Die Vorwürfe gegen die Behörde gehen noch weiter. So habe die Arbeitsagentur nach der Schilderung von Mutter und Tochter nur vorgeschlagen, eine digitale Ausbildung von Zuhause aus beim Berufsbildungswerk Hannover zu machen. „Mehrere Male haben sie uns gesagt, das sei die einzige Möglichkeit für Katharina“, betont die Mutter.
Nächste Kritik: Ärztliches Gutachten über Arbeitsfähigkeit sei falsch
Der Vorschlag komme für die junge Duisburgerin jedoch nicht in Frage. Sie möchte eine betriebliche Ausbildung in Duisburg machen. Was die Familie außerdem nicht versteht: Ein ärztliches Gutachten der Arbeitsagentur attestiert Trommen, dass sie nur drei Stunden am Tag arbeiten könne. „Wie kann so etwas sein? Sie war auch jeden Tag acht Stunden in der Schule und ist fit“, meint ihre Mutter.
Wir konfrontieren die Agentur für Arbeit mit den Vorwürfen. Am Telefon sagt Pressesprecherin Heike Börries, ohne eine Schweigepflichtentbindung könne sie unserer Redaktion keine detaillierte Auskunft geben. Börries versichert aber am nächsten Tag: „Wir sind jede einzelne Akte von jungen Menschen mit Behinderungen durchgegangen und kennen keinen einzigen Fall, der auf die geschilderte Beschreibung passt.“
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Damit unsere Redaktion nähere Informationen einholen kann, unterschreibt Katharina Trommen die Schweigepflichtentbindung. Danach treffen wir Verantwortliche der Arbeitsagentur. Sie zeigen sich irritiert und schockiert von den Vorwürfen. „Bei uns hat dieser Fall riesige Fragezeichen ergeben“, sagt Geschäftsführer Marcus Zimmermann.
Duisburger Agentur für Arbeit kann sich den Vorfall nicht erklären
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Er kann sich den Vorfall nur durch eine misslungene Kommunikation erklären. Aus einem dicken Aktenordner voller Unterlagen zu Katharina Trommen geht hervor: Ja, es gab dieses ärztliche Gutachten und auch den Vorschlag zur digitalen Ausbildung. Es wird aber auch deutlich: Die relevanten Informationen sind bei der jungen Duisburgerin anscheinend nicht angekommen.
„Bei dem Gutachten war allen sofort klar, dass es überarbeitet werden muss, und die digitale Ausbildung war dazu gedacht, dass unsere Kundin die Zeit nutzen kann und nicht noch ein weiteres Jahr auf den Beginn einer betrieblichen Ausbildung warten muss“, erklärt Iris Lischer. Sie ist Teamleiterin für Rehabilitation und Menschen mit Behinderung bei der Arbeitsagentur und hat sich eingehend mit dem Fall beschäftigt. Der Wechsel in eine betriebliche Ausbildung sei dabei jederzeit möglich.
Würde also bedeuten, dass Trommens Traum von einer normalen Ausbildung nichts im Wege steht? Prinzipiell ja.
Eignungsverfahren beim Berufsbildungswerk ist nötig
Bevor es jedoch um die Suche nach einem Ausbildungsplatz gehe, sei ein vierwöchiges Eignungsverfahren beim Berufsbildungswerk Hannover nötig. „Das ist dafür da, ihre personalen und fachlichen Kompetenzen zu erproben“, sagt Lischer. „Das heißt aber nicht, dass sie dort danach eine Ausbildung machen muss. Es ist ergebnisoffen, und so haben wir es ihr auch erklärt.“ Katharina Trommen habe sich damit einverstanden gezeigt. Ihre Unterschrift auf der Beantragung zeugt davon.
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Und was passiert nach diesen vier Wochen? Das hänge allein von Trommen ab. Wenn sie keine digitale Ausbildung machen wolle, werde die Agentur nach einer anderen Möglichkeit Ausschau halten. „Der Wunsch des Kunden steht bei uns im Vordergrund. Wir sind nicht dafür da, Ausbildungen zu negieren, sondern zu vermitteln“, sagt Marcus Zimmermann und betont noch einmal: „Wir sind sicherlich nicht frei von Fehlern. Aber diese Vorwürfe können wir überhaupt nicht nachvollziehen.“
Antworten zu Pflege- und Arbeitsassistenz und Windeln von der Agentur für Arbeit
Auf die anderen beiden Vorwürfe der Familie geht Iris Lischer ebenfalls ein. „Ob jemand eine Windel tragen möchte, gehört zu den standardisierten Fragen, um den Pflegebedarf einzuschätzen“, erklärt die Reha-Leiterin. Und eine Pflege- oder Arbeitsassistenz werde von der Krankenkasse oder von der Arbeitsagentur „selbstverständlich“ übernommen, wenn der entsprechende Pflegegrad vorliegt. Mit einem Pflegegrad von 4 steht Trommen diese Leistung zu.
Bedeutet im Endeffekt: Nach Auskunft der Arbeitsagentur unserer Redaktion gegenüber bestehe für sie in jedem Fall die Möglichkeit, eine betriebliche Ausbildung in Duisburg zu machen, sofern sich dafür ein Arbeitgeber findet und die Pflegeleistung beantragt wird. Nur noch das vierwöchige Online-Eignungsverfahren fehle, das Anfang 2023 starten würde.
Gegenrede, Freude und Dank
Die Verantwortlichen der Agentur für Arbeit betonen, dass sie froh gewesen wären, wenn Katharina Trommen sie direkt konfrontiert hätte statt über die sozialen Medien und eine Tageszeitung zu gehen. Außerdem behauptet Lischer: „Telefonisch war sie manchmal schwer zu erreichen und einmal hat sie gefragt, ob sie statt eines persönlichen Termins auch einen telefonischen bekommen kann.“
Die 22-Jährige sagt dazu auf Nachfrage: „Komisch. Ich habe jeden einzelnen Termin wahrgenommen und nur einmal abgesagt, als unser Auto kaputt war.“ Doch darüber wolle sie sich nun keine weiteren Gedanken machen. Ihre Freude überwiegt, als wir ihr von den Möglichkeiten berichten, welche die Arbeitsagentur aufzeigt. „Wow, super!“, sagt sie erleichtert. „Das hört sich ja ganz anders an. Ich freue mich wahnsinnig und werde gleich sofort bei meiner Krankenkasse anrufen, um die Pflegeassistenz zu beantragen. Vielen, vielen Dank!“