Duisburg. Finn aus Duisburg hat Kinderdemenz. Die unheilbare Krankheit führt zu einem frühen Tod. Wie Familie Pilgram mit der traurigen Diagnose umgeht.

„Finn war immer ein echter Handwerker“, sagt Uwe Pilgram über seinen Sohn. „Er hat alles aufgebaut, zusammengeschraubt – und am Ende wieder auseinandergenommen.“ Zu dieser Zeit ist der Junge schon blind. Ohne Augenlicht steigt Finn auch aufs Snowboard und schwebt mit dem Gleitschirm 2500 Meter über der Erde. Das sind Erinnerungen. Denn alles, was Finn je gelernt hat, kann er heute nicht mehr. Mit 28 Jahren ist er auf einen Rollstuhl angewiesen und ein Pflegefall.

Finn aus Duisburg leidet an Kinderdemenz, einer sehr seltenen und unheilbaren Erbkrankheit (siehe Infobox unten). Deutschlandweit gibt es nur etwa 700 Betroffene. Sie entwickeln sich im Laufe ihrer Leben geistig und körperlich unaufhaltsam zurück. Es ist ein Leben, das rückwärts verläuft und viele kleine Abschiede kennt. Schuld ist ein genetischer Defekt, die Nervenzellen sterben zunehmend ab. Bis etwa zum Einschulalter entwickeln sich betroffene Jungen und Mädchen aber ganz normal.

Mit einem Hausschwein fing es an, auch mehrere Hunde kamen hinzu. Finn hat sich immer gewünscht, einen Bauernhof zu bewirtschaften.
Mit einem Hausschwein fing es an, auch mehrere Hunde kamen hinzu. Finn hat sich immer gewünscht, einen Bauernhof zu bewirtschaften. © Familie Pilgram

Kinderdemenz: Zuerst nimmt die Sehkraft ab

Dann nimmt zunächst die Sehkraft ab. Finn trifft etwa den Fußball nicht mehr richtig. Schon mit sechs Jahren ist es um ihn dunkel. Wenig später beginnt bei Betroffenen ein geistiger Abbau, sie werden vergesslicher. „Das Zahlenverständnis geht verloren“, sagt Mutter Sabine Pilgram über die ersten Anzeichen. Es folgt Buchstabensuppe im Kopf.

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Zu diesem Zeitpunkt wissen die Eltern oft noch gar nicht, wie es um das Kind steht. Sie durchlaufen eine Odyssee, werden von Arzt zu Arzt geschickt. Bei Finn war das anders. Doch die frühe Kenntnis über seine Krankheit ist eng mit dem Schicksal verknüpft, das seine Familie gleich zweifach ereilte: Auch Nina, die älteste Tochter, litt an Kinderdemenz.

Mit 26 Jahren stirbt Nina an Kinderdemenz

Finn läuft schon scheinbar kerngesund durch den Garten, als sich bei seiner älteren Schwester die ersten Symptome zeigen. Mit zwölf, nach vier langen Jahren, erhält Nina die Diagnose. „Es war eine sehr anstrengende Zeit“, erinnert sich Sabine Pilgram an die lange Ungewissheit. Schleichend verschlechtert sich über die Jahre Ninas Zustand. Nur Pia, die mittlere Tochter, bleibt von der Krankheit verschont.

Nina verlernt zu gehen und sprechen, bekommt epileptische Anfälle. Als sie 19 Jahre alt ist, hat die Krankheit ein Stadium erreicht, in dem fast alle Fähigkeiten verloren gegangen sind. Nina ist bettlägerig, muss gefüttert werden. Irgendwann versagen lebenswichtige Organe. Mit jedem Schritt rückwärts wissen Sabine und Uwe, dass auch Finn diesen Weg noch gehen wird. 2014 müssen die Pilgrams ihre Tochter im Alter von 26 Jahren verabschieden.

Die Pilgrams schenken den Kindern ein Leben mit vielen Abenteuern

Nicht erst durch den frühen Tod der Tochter leben die Pilgrams nach dem Prinzip, dass man dem Leben nicht mehr Zeit geben kann, aber der Zeit mehr Leben. „Alles, was möglich war, haben wir gemacht“, sagt Uwe Pilgram. Und egal wie kurz und vorbestimmt es auch sein mag: „Jeder Mensch hat das Recht auf sein Leben, denn man hat nur dieses eine“, machen die Pilgrams Mut, sich dem Schicksal niemals zu ergeben.

So lange wie es möglich war, haben sie den Kindern „ein normales Leben“ ermöglichen wollen. „Finn durfte immer an seine Grenzen gehen“, was auch nur durch ein Loslassen der Eltern möglich ist. Sie wollen ihren Sohn nicht entmündigen, ihm sein eigenes Leben schenken. All die Erinnerungsfotos aus dem Familienalbum zeugen von einer Zeit, als es noch weniger kleine Abschiede gab und das Leben der beiden Kinder noch nicht gnadenlos rückwärts verlief.

2500 Meter über dem Boden: Finn bei einem Tandemflug in Österreich.
2500 Meter über dem Boden: Finn bei einem Tandemflug in Österreich. © Familie Pilgram

Die Aufnahmen zeigen Finn beim Zelten oder Angeln, bei einem Flug mit dem Tragschrauber oder auf dem Surfbrett, von dem er furchtlos ins Wasser springt. In einer längeren Phase ist Finn aber auch nur Ritter Pilgram, der in einem echten Kettenhemd zur Blindenschule geht – und am Ende des Schultages unter der Last nur langsam zurück schlurft. Stolz ist er auf sein selbstgeschmiedetes Schwert. „Einen Blindenstock hat Finn immer abgelehnt.“ Lieber hat er sich drei Mal das Knie gestoßen.

Kinderdemenz und die Frage nach dem letzten Abschied

Nur einmal fragt Finn seine Mutter über seine Krankheit aus. Sabine Pilgram antwortet auf alle Fragen – auch als Finn sie fragt, dass man irgendwann an Kinderdemenz ja sterben wird. Finn akzeptiert die Erklärung und stellt diese eine Frage nie mehr wieder.

In Griechenland sollte ein Esel zur Familie gehören. Nur schwer konnte sich der junge Finn von dem angebundenen Tier trennen.
In Griechenland sollte ein Esel zur Familie gehören. Nur schwer konnte sich der junge Finn von dem angebundenen Tier trennen. © Familie Pilgram

Die Momentaufnahmen zeigen den Urlaub in Griechenland, der fast mit Familienzuwachs endet, weil Finn einen angebundenen Esel zu gern mitnehmen möchte. Ein Hausschwein, das die Pilgrams im Wohnmobil sogar durch Europa mitnehmen, hat er da schon. „Weil Schweine immer grunzen“, sind sie durch ihre Akustik ein idealer Begleiter für Blinde, erklärt Sabine Pilgram. In Australien hält Finn Koalas und Kängurus im Arm, vor Curaçao schwimmen Nina und Finn mit Delfinen.

In der Karibik schwimmen Finn und seine Schwester mit Delfinen. Später sind es Delfingeräusche, die Nina zum Lächeln bringen.
In der Karibik schwimmen Finn und seine Schwester mit Delfinen. Später sind es Delfingeräusche, die Nina zum Lächeln bringen. © Familie Pilgram

„Tiere waren immer seine Welt“, sagt Uwe Pilgram, der im familieneigenen Schlossereibetrieb tätig ist. Finn hingegen wollte Bauer werden und hat sich mit seiner Schwester einen eigenen Bauernhof gewünscht. Heute erinnern nur noch die Hirsch- und Delfinmotive auf dem Speichenschutz seines Rollstuhls an diese Zeit. „Er hat zu Tieren keinen Zugang mehr“, sagt sein Vater.

So geht es Finn heute

Im Rollstuhl sitzt im September 2022 ein junger Mann, blondes Haar und Drei-Tage-Bart, der für Außenstehende nicht mehr viel mit dem selbstbewussten Jungen von den Fotos und Erzählungen gemein hat. Finn kann nicht mehr laufen. Seine Augen bewegen sich suchend im Raum, die fremden Stimmen um ihn herum nimmt er wahr. Seitdem er 19 Jahre alt ist, hat sich sein Sprechen stetig verschlechtert. Finn kommuniziert nun nur noch über Laute. „Manchmal habe ich Angst, ihn nicht verstehen zu können. Ihm nicht gerecht zu werden“, sagt seiner Mutter.

Finn ist 28 Jahre alt und mittlerweile auf einen Rollstuhl angewiesen. Hier ist er mit seinen Eltern Uwe (61) und Sabine (58) zu sehen.
Finn ist 28 Jahre alt und mittlerweile auf einen Rollstuhl angewiesen. Hier ist er mit seinen Eltern Uwe (61) und Sabine (58) zu sehen. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Mittlerweile teilt sich das Leben in gute und schlechte Tage. Das Ende des Spektrums ist erreicht, wenn Finn verkrampft, epileptische Anfälle und Panikattacken bekommt. „Heute Morgen ist er schreiend wach geworden“, erklärt seine Mutter. Manchmal haut sich Finn vor den Kopf. Sabine Pilgram plagt dann eine Hilflosigkeit, die ihr Sohn trotz Blindheit lange nicht verspürt hat.

Drei Wochen ist Finn mit seinen Eltern durch Australien gereist, ist Koalas und Kängurus begegnet.
Drei Wochen ist Finn mit seinen Eltern durch Australien gereist, ist Koalas und Kängurus begegnet. © Familie PilgrAm

So lange es geht, wollen die Eltern dem Sohn gerecht werden, auch wenn die Sorge um Finn und die schlechten Tage an ihren Kräften zehren. „Wir sind oft am Limit. Wechseln uns ab, sind müde“, sagt die 58-Jährige. Mehrmals die Woche wird Finn stundenweise vom Pflegedienst für Spaziergänge abgeholt, dann geht es durch den Wald oder um die Sechs-Seen-Platte. Für die Eltern bleibt dann Zeit zum Durchatmen, Finn erlebt Wind und Geräusche, wird abgelenkt.

Kinderdemenz und der Tag des letzten Abschieds

Und dann gibt es noch die guten Tage, an denen Finn „im Hier und Jetzt“ ist, wie sein Vater sagt. Dann lacht Finn, so wie jüngst im Strandrolli in den Niederlanden und beim Rauschen der Wellen, die Finn einst mit dem Surfbrett geritten ist. Trotzdem wissen die Pilgrams, dass der Tag des letzten Abschieds, den die Familie schon einmal erlebt hat, wieder auf sie zukommen wird. Im November wird Finn 29 Jahre alt.

„Finn kämpft noch wie ein Löwe um sein Leben“, sagen die Pilgrams. Tochter Nina hatte am Ende ihren Lebenswillen verloren. Der Glaube an ein Leben nach dem Tod habe es bei ihrem Abschied leichter gemacht. „Nina ist jetzt da, wo es ihr besser geht“, sagt Sabine Pilgram. An einem Ort, an dem das Leben keine Abschiede kennt. An dem seine große Schwester auf Finn wartet. Vielleicht mit dem gemeinsamen Bauernhof, von dem er immer geträumt hat.

Ein Urlaubsfoto der Pilgrams mit (von links) Schwester Pia, Mutter Sabine, Finn, Uwe und Nina.
Ein Urlaubsfoto der Pilgrams mit (von links) Schwester Pia, Mutter Sabine, Finn, Uwe und Nina. © Familie Pilgram

>> KINDERDEMENZ: NCL-STIFTUNG SETZT SICH FÜR FORSCHUNG EIN

  • Die Kinderdemenz ist eine bis heute kaum erforschte Stoffwechselerkrankung, ein Erbleiden mit dem wissenschaftlichen Namen Neuronale Ceroid-Lipofuszinose, kurz NCL.
  • Es gibt 13 NCL-Formen, die sich unter anderem danach unterscheiden, in welchem Alter sich die Symptome wie Erblinden, Demenz und motorische Probleme bemerkbar machen.
  • Allen Krankheitsformen ist gemein, dass sie derzeit unheilbar sind. Viele Erkrankte sterben vor dem 30. Lebensjahr.
  • Von Betroffenen wurde auch die gemeinnützige NCL-Stiftung gegründet. Die Stiftung informiert, klärt auf und unterstützt die Forschung, um den betroffenen Kindern eine Aussicht auf bisher fehlende Therapie- und Heilungsansätze zu geben.
  • Mehr Informationen und die Möglichkeit für die gemeinnützige Organisation zu spenden, gibt es auf der Internetseite: ncl-stiftung.de