Duisburg. VW-Chef Herbert Diess sollte als Zeuge vor Gericht erscheinen. Er kam nicht. Doch sein Lanz-Interview erhöht nun die Chancen für klagende Kunden.

„Jansen gegen Volkswagen Aktiengesellschaft, bitte eintreten.“ Saal 256 im Landgericht Duisburg wandelt sich am Dienstagmorgen zu einer Manege, in der der Vorsitzende Richter Bernd Bellenbaum den weltgrößten Autohersteller vorführt - zur mutmaßlichen Freude der rund 100.000 klagenden deutschen VW-Kunden (plus rund 430.000, die sich einer Musterfeststellungsklage angeschlossen haben). Der Agenturleiter Stefan Jansen aus Moers ist also nur einer von vielen, die Schadenersatz fordern für die Wertminderung seines Diesel-Fahrzeugs durch die Manipulation von Abgaswerten. Doch in seinem Fall hat das Gericht das persönliche Erscheinen des VW-Vorstandsvorsitzenden Herbert Diess angeordnet. Auch dies geschieht häufiger, jedoch selten mit Ankündigung und nie so pünktlich zur Frankfurter Automesse IAA.

„Da sind wir aber noch nicht vollständig“, bemerkt Richter Bellenbaum, obwohl auch er mit dem Erscheinen von Herrn Diess kaum gerechnet haben kann. Die Zivilprozessordnung sieht schließlich vor, dass dieser einen „informierten Vertreter“ schicken kann, was er bislang auch immer genutzt hat. Allerdings ist VW-Anwalt Friedrich Keller nicht einmal informiert, ob Herr Diess erscheinen werde oder nicht. "Keine Kenntnis", gibt er in gelangweiltem Ton zu Protokoll, während er auf sein Handy blickt.

Eine folgenschwere Äußerung bei Markus Lanz

Es ist ein schlechter Start, Richter und Anwalt werden sich in der Folge um Formalien beharken. Bellenbaum wird ausführen, warum er in Keller keinen geeigneten Vertreter des Konzernchefs sieht. Keller wird einen Befangenheitsantrag gegen den Richter stellen, weil dieser seine Sicht auf ein Interview von Herbert Diess in der TV-Show von Markus Lanz darstellt. Womit dieser Zivilprozess um einen VW Golf Cabrio Tdi, Baujahr 2012, Kaufpreis bei Kilometerstand 14.000 noch 19.790 Euro, frühestens im November fortgesetzt werden kann. Was den Fall dennoch spannend macht, sind zwei Schlüsse, die Bellenbaum aus dem Lanz-Interview im Juni zieht, in dem Diess sagte: „Das, was wir gemacht haben, war Betrug, ja.“

Die kaufrechtlichen Ansprüche auf Mängelbeseitigung und Schadenersatz gelten gemeinhin als verjährt. Nur die Klage auf sittenwidrige vorsätzliche Schädigung versprach zuletzt noch Aussicht auf Erfolg. Wir schreiben immerhin das Jahr vier des Dieselskandals, argumentiert der Konzern. Käufern, die nicht schon 2015 von den Manipulationen gehört haben, bescheinigt der VW-Anwalt „fahrlässige Unkenntnis“. Doch Richter Bellenbaum sieht den Beginn der dreijährigen Verjährungsfrist „frühestens mit der Äußerung von Herrn Diess bei Herrn Lanz, weil dadurch das erste Mal erkennbar war, dass VW zugestehen könnte, unrechtmäßig gehandelt zu haben“.

Tatsächlich beharrt VW trotz Milliardenstrafen in den USA darauf, dass die Abschalteinrichtungen nach EU-Recht legal gewesen seien und der Schaden durch ein Software-Update behoben sei. Die Rechtssprechung hierzu ist bislang uneinheitlich, eine höchstrichterliche Entscheidung ist erst nächstes Jahr zu erwarten. Bellenbaum glaubt also, dass potenzielle Kläger die Manipulationen und vor allem ihre Klageaussichten bis zu diesem Diess-Interview nicht vollständig haben einordnen können.

Hat das Update die Abgasrückführung beschädigt?

Mit der scheibchenhaften Aufklärung begründet auch der unglückliche Autobesitzer Stefan Jansen seine späte Klage Ende 2018. Jedenfalls fühle er sich „von VW beschissen“. Die Abgasrückführung des Golfs seiner Frau sei kurz nach dem Software-Update kaputt gegangen. Zudem habe man ja extra ein Fahrzeug mit grüner Plakette gekauft, damit sie in die Düsseldorfer Umweltzone pendeln könne.

Doch was hat Diess tatsächlich gemeint, als er von „Betrug“ sprach? VW-Anwalt Keller sagt, Diess habe einen Abgasskandal Ende der 70er in Kalifornien gemeint. Dieser war zwei Fragen zuvor Thema im TV-Interview, formal lässt sich hier also ein Bezug zu Diess’ Äußerung herstellen. Der Duisburger Richter hingegen interpretiert so: Diess komme vor seinem Betrugs-Geständnis indirekt „zurück auf die aktuelle Problematik“, so Bellenbaum. Der VW-Chef habe zudem auf die Folgefrage drei Sekunden geschwiegen. „Er wirkte auf mich eher so, als wäre ihm bewusst geworden, dass er da einen Fehler begangen hat.“

Und dazu hätte er Diess wohl gerne persönlich in die Augen geschaut. Doch Richter Bellenbaum ist zuversichtlich, dass er auch ohne den VW-Chef zu einem „gerechten Urteil“ kommen könne - vorausgesetzt, der Befangenheitsantrag wird abgewiesen. Er verzichtet also auf ein Ordnungsgeld gegen Diess. Gleich anschließend wird übrigens ein zweiter VW-Fall verhandelt, und auch Anwalt-Keller gibt sich wieder mit dem Richter einverstanden - denn dieser Fall, ist abzusehen, wird wie so häufig per außergerichtlicher Geldzahlung entschieden.

>> Info:

Gegenwärtig sind 62.000 Klagen gegen Volkswagen im Zusammenhang mit dem Abgasmanipulationsskandal anhängig. Darin sind laut zum Teil mehrere Ansprüche gebündelt, so dass man laut Volkswagen von etwa 100.000 Anspruchsstellern ausgeht, 40.000 Urteile seien entschieden worden, überwiegend zugunsten von Volkswagen beziehungsweise der Händler.