Duisburg. Hansjörg Pitz liegt im Wachkoma und droht zu ersticken. Dennoch wollte ihm die Krankenversicherung eine weitere Intensivpflege verwehren.
„Es geht um Leben und Tod.“ Marina Schulte Overberg sagt das nicht einfach so. Sie ist verzweifelt. Dabei geht es nicht um sie, sondern um ihren Mann. Hansjörg Pitz liegt im Wachkoma und droht jederzeit zu ersticken – 24 Stunden am Tag. Pitz ist Intensiv-Patient. Seine Krankenversicherung DKV sah das anders. Zumindest bis sich die Duisburgerin in ihrer Verzweiflung an unsere Redaktion wandte. Zuvor wurden die Leistungen für die Intensivpflege vergangene Woche eingestellt.
Für die Duisburgerin ein Schock: „Ich weiß nicht weiter“, sagte sie. Noch beschäftigt sie einen privaten Pflegedienst. Doch in zehn Tagen sind ihre Ersparnisse aufgebraucht. Danach wäre sie mit der Pflege auf sich gestellt. Rund um die Uhr.
Herzstillstand mit 44 Jahren
Das Schicksal schlägt an Silvester 2006 zu. Es ist drei Uhr morgens am letzten Tag des Jahres, als Hansjörg Pitz in der Nacht aufsteht und plötzlich umfällt. Herzstillstand. Notärzte reanimieren den 44-Jährigen, der ab diesem Tag zu einem Schwerstpflegefall wird.
Er liegt im Wachkoma und hat eine Hirnschädigung. „Er hat ein minimales Bewusstsein“, sagt Marina Schulte Overberg – kann sich durch Laute bemerkbar machen, zeigt kleine Reaktionen. „Er lächelt oder drückt meine Hand.“ Sprechen oder das Bett verlassen wird Hansjörg Pitz wohl nie mehr.
Ehemann muss 24-Stunden überwacht werden
Das Bett ihres Mannes steht mitten im Wohnzimmer. „So kann er in den Garten schauen und bekommt alles mit“, etwa wenn Marina Schulte Overberg kocht, oder eine Freundin zu Besuch ist. Ihr Mann ist dabei und soll am Leben teilhaben.
Es hat aber auch einen anderen Grund: „Er ist komplett auf Hilfe angewiesen“. Alle zwei bis drei Stunden muss er bewegt werden. Über eine Magensonde wird der 57-Jährige ernährt. „Rund um die Uhr muss er überwacht werden.“
Ein Schlauch, der das Leben rettet
Ein kleiner dünner Schlauch, nur wenige Millimeter breit – für Hansjörg Pitz ist er überlebenswichtig. Wenn sich im Mund und an den Bronchien Sekret sammelt, wird dieses abgesaugt. Sonst droht Pitz an seinem Speichel zu ersticken. „Die Anfälle kommen plötzlich und zu jeder Zeit.“ Medizinische Gutachten bestätigen, dass die 24-Stunden-Pflege überlebenswichtig ist. Die Anfälle sind unvorhersehbar.
So wie an diesem einen Donnerstag im Juni. Plötzlich bekommt Hansjörg Pitz einen Schreianfall. Weinend liegt er im Bett. Schnell greift Pflegerin Birgitt Hellmig zum Schlauch und saugt den Speichel ab. Er bekommt keine Luft mehr. Die Pflegerin weicht in dieser Situation nicht von seiner Seite.
13 Jahre ständige Angst und aufopferungsvolle Pflege
Seit 13 Jahren lebt Marina Schulte Overberg mit dieser ständigen Angst. In den ersten Jahren hat sie die Pflege alleine übernommen. Sie hat ihren Beruf aufgegeben und lebte nur noch für ihren Mann. Irgendwann verließen sie die Kräfte.
Erst im dritten Versuch nach unzähligen Prüfungen und Gutachten und mit Hilfe eines Rechtsanwaltes wurde in den vergangenen drei Jahren die kostspielige 24-Stunden-Pflege von der Krankenversicherung bewilligt. Am 17. Mai erreichte sie ein Brief, der alles änderte. Die DKV erklärte darin, dass sie nicht mehr für die Rund-um-die-Uhr-Pflege aufkommen werde, ehe sie sich nach der ersten Online-Publikation erneut zu diesem Fall äußerte.
DKV lenkt nach Anfrage der Redaktion ein
20 Stunden hatte die Versicherung Zeit, sich gegenüber dieser Redaktion zu dem Fall Hansjörg Pitz zu äußern. Zwei Fristen ließ sie verstreichen. Dann die Wende: „Wir haben uns aufgrund der aktuellen Situation von Herrn Pitz und der hohen Belastung für Frau Schulte Overberg dazu entschieden, die tariflichen Leistungen für zunächst weitere 13 Monate zur Verfügung zu stellen“, sagt ein Sprecher der Versicherung.
Zuvor – und trotz mehrere Einwände von Hausärzten und des Pflegedienstes – erfolgte die Ablehnung der Intensivpflege. Der Grund: Im Jahr 2018 wurde Hansjörg Pitz aufgrund einer Gallenkolik auf einer Normalstation im Krankenhaus behandelt. „Warum wurden Sie, als überwachungspflichtiger Patient, nicht auf der Intensivstation untergebracht?“, heißt es in einem Schreiben der DKV, das dieser Zeitung vorliegt. Dies widerlege den bisherigen Kenntnisstand über den Pflegebedarf, heißt es weiter.
Ehefrau war zur Bewachung mit im Krankenhaus
Was die Krankenversicherung nicht berücksichtigt: „Es war zu diesem Zeitpunkt kein Intensivbett frei“, versichert Selcuk Cankaya vom Pflegedienst Lukas. Die 24-Stunden-Überwachung übernahmen zu der Zeit die Lebensgefährtin sowie der Pflegedienst. „Ohne diese zusätzliche Betreuung hätte er niemals auf einer Normalstation liegen können“, sagt Cankaya. Dies sei laut der beratenden Fachärzte der DKV ungewöhnlich. Gleichzeitig wäre die Anwesenheit der Ehefrau nicht in den Krankenhausberichten dokumentiert worden, so die DKV. Da die Intensivpflege monatlich rund 25.000 Euro kostet, wollte die Versicherung die Zahlungen stoppen.
Ein Gutachten des behandelnden Hausarztes verdeutlicht, dass die Intensiv-Pflege weiterhin notwendig ist. Dies wolle die DKV nun durch einen unabhängigen Gutachter prüfen lassen.
„Der Kampf ist noch nicht gewonnen“
„Der Kampf ist noch nicht gewonnen“, sagt Marina Schulte Overberg. Die Intensivpflege hatte ihr ein Stück weit ihr Leben zurückgegeben. Sie konnte mit einer Freundin mal ins Kino gehen – jetzt quält sie wieder rund um die Uhr die Sorge um ihren Mann – auch trotz der mündlichen Zusage der Verlängerung. Denn: „Ich weiß nicht, wie ich es leisten soll, ihn 24 Stunden zu versorgen, wie ich es in den ersten Jahren getan habe. Das überleben wir beide nicht.“
Seit 21 Jahren ist das Paar zusammen. „Mein Mann war ein sehr lebensbejahender Mensch. Ein großer Junge mit viel Verantwortungsbewusstsein.“ Er hatte viele Hobbys, fuhr gerne schnelle Autos und malte Bilder. Einige dieser Gemälde hängen im Wohnzimmer der Familie. „Wenn er wach ist und mich anlacht mit seinen großen blauen Augen, weiß ich, ich habe alles richtig gemacht.“ Sie bereut keinen Moment, sagt aber auch: „Er darf gehen, aber er hat im Leben immer gekämpft.“ So auch jetzt. Nur eines ist ihr klar: „Wann er geht, dass entscheidet nicht die DKV.“