Duisburg. Carsten Müller und Jennifer Bockhoff betreiben in Duisburg eine Praxis für Sexualität. Ein Gespräch über Lust, Aufklärung und Tabus.
Die Praxis für Sexualität liegt etwas versteckt in der Rheinpreußensiedlung in Homberg. Wer hier hinkommt, möchte vielleicht nicht von jedem gesehen werden. Trotzdem machen Jennifer Bockhoff und Carsten Müller kein Geheimnis aus ihrem Job.
Der 37-Jährige und die 34-Jährige sind studierte Sozialpädagogen, haben einige Jahre in den klassischen Themenfeldern gearbeitet, bevor sie sich im Bereich Sexualpädagogik und -therapie weitergebildet haben. In ihrer schön gestalteten Praxis, die aussieht wie ein Loft, schulen sie sowohl Erzieherinnen, Lehrer oder Mitarbeiter von Jugendämtern, bieten aber auch Gespräche für Paare und Einzelpersonen an.
Um mal mit einem Vorurteil aufzuräumen: Orgien gibt’s hier keine, oder?
Carsten Müller (lächelt): Nein. Aber es ist ganz interessant, wie die Reaktionen sind. Als wir unsere beiden Büros aus Krefeld und Essen zusammen legen wollten und Räume gesucht haben, gab’s ziemlich viele Absagen. Wir wollen aber transparent mit dem Thema umgehen. In Homberg sind wir sehr nett aufgenommen worden und engagieren uns jetzt auch im Werbering.
Jennifer Bockhoff: Schöne Räume sind wichtig für die Atmosphäre, sie helfen, den Druck rauszunehmen. Wir sind hier sehr zufrieden. In Essen hatten wir unsere Praxis im gleichen Gebäude wie ein Escape-Room. Wenn am Wochenende die Junggesellenabschiede kamen, wurden immer viele Fotos vor unserem Praxisschild gemacht. Irgendwann hatten wir aber jeden Witz schon einmal gehört.
Obwohl man im Alltag immer wieder mit Sex konfrontiert wird, fällt es vielen doch schwer, darüber zu sprechen.
Müller: Das Thema ist noch immer tabuisiert und Scham besetzt. Am Anfang muss man gewissermaßen erst einmal Vokabeln lernen und lernen, darüber zu sprechen.
Gibt es eine Bezeichnung für Geschlechtsorgane, die nicht peinlich ist?
Müller: Warum kann man nicht einfach die Begriffe Penis und Scheide verwenden?
Bockhoff: Vor allem bei Kindern gibt es eine große Offenheit. Das wollen wir bestärken. Es hat nichts mit sexueller Lust zu tun, wenn sich die Kinder entdecken. Der beste Schutz auch vor sexueller Gewalt ist es, wenn Kinder sich frühzeitig äußern können. Wenn Kinder Erwachsene Fragen, ob sie auch eine Scheide haben, dann hat das viel mit Neugier zu tun.
Sie arbeiten aber auch mit jugendlichen Tätern?
Bockhoff: Wir vermeiden den Begriff Täter, wir sprechen von übergriffigen Personen. Dabei ist es uns wichtig ganzheitlich zu arbeiten wir wollen nicht nur ein Pflaster auf die Wunde kleben, wenn etwas passiert ist, sondern dafür sorgen, dass die Wunde gar nicht entsteht. Deshalb arbeiten wir auch mit dieser Seite. Wir werden zum Beispiel von Jugendämtern hinzugezogen, wenn es Verdachtsfälle gibt.
Ist es nicht schwierig, gegen öffentlichen Druck mit solchen Personen zu arbeiten?
Müller: Dafür bekommt man nicht nur Lob-Mails, aber wir finden diese Arbeit wichtig weil es ein aktiver Opferschutz ist.
Wie ist es bei Privatleuten. Kommen sie alleine oder als Paar?
Müller: Unterschiedlich. Einige Paare kommen zu uns und sagen, dass mit der Partnerschaft alles stimmt, es aber im Bett nicht läuft oder umgekehrt. Beides kann man aber nicht voneinander trennen. Am Anfang ist alles rosarot und man kommt aus dem Bett nicht mehr raus. Aber danach muss man über seine Wünsche sprechen und auch mal einen Termin machen – nicht um Sex miteinander zu haben, sondern um sich Zeit als Paar zu nehmen. Alltag ist ein Arschloch.
Sind Frauen heute freier, sich ihre sexuellen Wünsch zuzugestehen?
Bockhoff: Es gibt Frauen, die sind in der Lage eigene Wünsche zu äußern und anderen fällt es immer noch sehr schwer eigene Lust zu kommunizieren. Nach wie vor ist es immer noch ein Thema mit einem hohen Veränderungspotenzial.
Pornos sind allgegenwärtig. Hat sich dadurch das Bild von Sexualität verändert?
Müller: Eindeutig. Viele stehen unter Druck. Dabei kann man sich den Tag, an dem beide Partner gleichzeitig zum Orgasmus kommen, rot im Kalender anstreichen. Normalerweise funktioniert das bei den verschiedenen Erregungskurven selten. Wichtig ist, sich nicht zu stressen.
Sie sind auch ein gefragter TV-Experte.
Müller: Wir wollen über unsere Arbeit erzählen und da ist uns (fast) jedes Mittel recht! Fernsehen ist da ein gutes Medium und wir freuen uns über die Möglichkeit auch dort präsent zu sein.
Wenn Sie den ganzen Tag über Sex sprechen, hat man privat noch Lust?
Müller: Klar, das kann ich gut trennen. Das ist wie bei einem Koch, der stellt sich ja auch zu Hause an den Herd.
Bockhoff: Nur auf Partys habe ich mir abgewöhnt zu sagen, was mein Beruf ist.
Müller: Stimmt. Sonst kommt immer jemand, der meint „Ein Freund von mir hat da ein Problem...“
Bockhoff: Früher sollte ich auch immer Anekdoten erzählen. Aber das mache ich nicht, das verbietet sich.
>>> Hintergrund und Kontakt
Die Seminare in Homberg sind schnell ausgebucht. Die Teilnehmer kommen aus ganz NRW, teilweise auch aus der gesamten Republik. Am Wochenende (16./17. März) findet ein Fachtag zum Thema „Fünf Blickwinkel“ statt.
Politiker, Lehrer, Fernseh-Doc Esser und andere Experten beschreiben ihre Sicht auf das Thema Sexualität. Manchmal laden die beiden Sexualpädagogen auch Fachleute aus der Szene ein. So war zum Beispiel einmal eine Domina zu Gast und hat über ihren Job und den Alltag berichtet.
Sexualtherapie ist eine Privatleistung. 120 Euro kostet die Beratung pro Stunde. „Einige wollen auch gar nicht, dass das über die Krankenkasse abgerechnet wird“, weiß Carsten Müller. Nähere Infos gibt’s auf www.praxis-sexualitaet.de