Duisburg. Drei Jahre ist es her, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren berühmten Satz sprach. Wir blicken aus Duisburger Sicht auf die Flüchtlingkrise zurück. Eine Chronik.
Am 31. August 2015 hat Angela Merkel den historischen Satz „Wir schaffen das“ gesagt. Da war die Flüchtlingskrise gerade auf ihrem Höhepunkt. Schon 2013 musste die Stadt hunderte Flüchtlinge aufnehmen und kam an ihre logistischen Grenzen. Ein Chronologie der Ereignisse.
"Wir schaffen das": Die Flüchtlingskrise in Duisburg
Die Stadt überlegt, das Hospital St. Barbara als Asylunterkunft zu nutzen, bevor das Gebäude abgerissen wird und ein Neubaugebiet entsteht. Am 5. Oktober ruft Pro NRW zu einer Kundgebung in Neumühl auf. Die Rechten skandieren „Kein Asyl in Neumühl“ – und zahlreiche Anwohner geben ihnen Recht. Teilnehmer der Gegendemo „Wir sind Duisburg“ werfen der Stadt Versagen vor, weil sie nicht rechtzeitig über ihre Pläne informiert hat.
Die Stadt will an sieben Standorten, verteilt auf alle Stadtbezirke, Notunterkünfte mit je 80 bis 100 Plätzen für Asylbewerber einrichten. 25 Standorte wurden geprüft. Sozialdezernent Reinhold Spaniel rechnet mit Kritik aus der Politik. Um Vorkommnisse wie in Neumühl zu vermeiden, lädt Spaniel Parteien, Kirchen, Wohlfahrtsverbände und alle Bezirksbürgermeister zu einem Gespräch ein. Duisburg steht unter Druck: Nach festen Quoten werden der Stadt Asylbewerber zugewiesen. 1050 leben aktuell in Duisburg, jeden Monat kommen rund 100 neue Flüchtlinge an. Spaniel: „Wir müssen handeln, und zwar schnell.“
Als Reaktion auf die Demo und die aufgeheizte Stimmung im Stadtteil wird die Neumühler Erklärung vorgestellt. In dem Papier heißt es: „Wir stehen für ein friedliches, tolerantes Miteinander aller Menschen in Neumühl (...)Bereits in der Vergangenheit wurde Neumühl zur Heimat für viele Menschen am Ende der Flucht; unterstützen wir Menschen, die aus den Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt bei uns Schutz suchen.“
Die Vereinten Nationen berichten, dass mittlerweile 2,6 Millionen Syrer das Land verlassen haben. 484 600 Personen haben 2013 Asyl in Europa beantragt, davon 109 600 in Deutschland.
Auch in Duisburg steigt die Zahl der Flüchtlinge. Bisher leben 1373 Personen in Duisburg. 662 sind in Wohnungen untergebracht, 711 wohnen in sechs Übergangswohnheimen.
Bei der Kommunalwahl im Mai 2014 ziehen mit Pro NRW, NPD und AfD erstmals wieder Rechtspopulisten und Rechtsextreme in den Rat ein. OB Sören Link sagte im Jahresinterview mit der WAZ dazu: „Ich muss als Demokrat, so schwer es mir fällt, akzeptieren, dass diese Menschen gewählt wurden. Ich finde es beschämend, dass Vertreter von NPD und Pro NRW im Rat sitzen. Das muss ein Ausrutscher bleiben.“
Sozialdezernent Reinhold Spaniel spricht von einem „dramatischem Anstieg“ der Flüchtlingszahlen. Ein Teil soll deshalb übergangsweise in Zelten unterkommen, da der Neubau von Wohnheimen oder die Inbetriebnahme anderer Unterkünfte so schnell nicht so realisiert werden kann. Daraufhin bricht bundesweit ein Sturm der Entrüstung los. Auch vor Ort äußern Nachbarn Sorge. Dennoch bauen Helfer des Deutschen Roten Kreuzes Mitte August 40 Zelte in Walsum auf. Am 24. August sollten die ersten Flüchtlinge einziehen. Doch dazu kommt es nicht.
Pegida veranstaltet den ersten Montagsspaziergang in Dresden. Die Zelte, die als Notunterkunft in Walsum geplant waren, werden wieder abgebaut.
Das ehemalige Krankenhaus St. Barbara in Neumühl wird zum Landesasyl umgebaut. Am Samstag, 20. Dezember, ziehen die ersten 45 Flüchtlinge ein. Die Polizei beobachtet die Lage, es bleibt aber alles ruhig. Insgesamt leben 1857 Geflüchtete in Duisburg. Die Zahl der Übergangsheime ist auf acht gestiegen.
Nach den Anschlägen von Paris kommt es bei der Pegida-Demonstration in Dresden zu einem Besucherrekord von 25 000 Personen. Parallel demonstrieren etwa 100 000 Menschen gegen Fremdenfeindlichkeit.
Am 19. Januar findet die ersten Pegida-Demo in Duisburg statt. Den Rechtspopulisten schlossen sich 800 Personen vor dem Hauptbahnhof an. Unter dem Titel „Duisburg stellt sich quer“ wird zeitgleich mit 3000 Gegendemonstranten eine Kundgebung vor dem Theater veranstaltet. Beteiligt sind etwa Kirchenvertreter, Parteien und andere Vereine. Pegida kündigt an, bis zum Sommer jeden Montag demonstrieren zu wollen. Dies lehnen die Gegendemonstranten ab, weil sie nicht „über jedes Stöckchen springen wollen, was man uns hinhält.“
Bundesinnenminister Thomas de Maizière erklärt in Berlin, 450 000 Flüchtlinge würden dieses Jahr in Deutschland erwartet.Der Flüchtlingsrat mahnt ein Konzept zur Betreuung von Asylbewerbern an und fordert per Unterschriftenaktion Mindeststandards.
In zahlreichen Stadtteilen engagieren sich Ehrenamtliche, treffen sich bei Kaffee und Kuchen vor Unterkünften, organisieren Frühstpcke für Nachbarn und Flüchtlinge stellen Sprachkurse auf die Beine und eröffnen Kleiderkammern.
Auch in Duisburg steigt die Zahl der Flüchtlinge weiter. Die Stadt will deshalb doch wieder ein Zeltlager in Walsum errichten – für doppelt so viele Personen wie im Jahr zuvor. Standort ist eine brach liegende Gewerbefläche in Aldenrade. Parallel entstehen landesweit große Zeltanlagen mit bis zu 1000 Plätzen. Zuvor mussten im Juli 500 neu zugewiesene Flüchtlinge untergebracht werden. Die Gesamtzahl lag bei 2800.
19. August: Das Innenministerium korrigiert die Zahl der erwartetet Flüchtlinge nach oben: Wegen der Lage in Syrien, im Norden Iraks und in Afghanistan, wird mit 800 000 Flüchtlingen gerechnet. Tausende kommen mit Busse und Bahnen nach Deutschland. Bilder von Helfern, die die Asylbewerbern am Münchener Bahnhof mit Teddybären, Lebensmittel- und Geldspenden in Empfang nehmen, gehen um die Welt.
Bundeskanzlerin Angela Merkel kommt auf ihrer „Gut leben in Deutschland“-Tour nach Marxloh. Bürger erklären ihr, die Flüchtlinge würden als „Invasion“ wahrgenommen. Merkel erklärt einem Mädchen, dass nicht alle kommen oder in Deutschland bleiben dürfen. Sie erntet Pfiffe und Buhrufe für ihre Politik.
31. August: Angela Merkel hält ihre Sommer-Pressekonferenz ab. „Wir leben in geordneten, sehr geordneten Verhältnissen“, sagt die Kanzlerin. Ausschreitungen werde der Staat mit aller Härte entgegen treten. Den Bürgern macht sie Mut: „Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!“
In Duisburg nimmt Hildegard Stieler ihre Arbeit auf. Sie soll Fragen und Spenden von Ehrenamtlichen koordinieren. Lange Zeit hatte die Stadt dezentrale Ansprechpartner befürwortet. Allerdings gab es etwa in einem Flüchtlingsheim im Norden zu viele Kleiderspenden während im Süden händeringend Bekleidung gebraucht wurde.
An der deutsch-österreichischen Grenze werden wieder Kontrollen eingeführt. Bei einer Flüchtlingskonferenz in Berlin sagt OB Sören Link: „Ich hätte gerne das Doppelte an Syrern, wenn ich dafür ein paar Osteuropäer abgeben könnte.“ Link entschuldigte sich wenig später. Er habe nicht die richtigen Worte gefunden. „Ich wollte durch meine Aussage niemanden persönlich treffen.“ Der Flüchtlingsrat sowie Stimmen aus der Politik und in den sozialen Netzwerken zeigten sich empört.
In der Zeltstadt in Walsum wohnen 199 Personen. 3140 Asylbewerber sind in Duisburg untergebracht. 1625 wohnen davon in Wohnungen. Die Stadt beziffert die Kosten für 2015 auf 37,8 Millionen Euro. Davon muss die Kommune 20,2 Millionen Euro selbst tragen. Die Stadt prognostiziert: Hält der Zustrom an, gebe es Ende September/Anfang Oktober keine freien Plätze mehr in Notunterkünften, Turnhallen und Wohnungen.
Die Glückauf-Halle in Homberg wird in eine Notunterkunft umgewandelt. Im Vorfeld hatte es hitzige Debatten gegeben, weil die Halle von vielen Sportvereinen genutzt wird, aber auch Karnevalssitzungen und andere Veranstaltungen stattfinden. 75 Freiwillige, darunter von der Feuerwehr, des Technischen Hilfswerk und von Sozialverbänden haben kurzerhand 250 Feldbetten aufgebaut, weil ad hoc 200 Flüchtlinge untergebracht werden mussten. Trennwände sollen wenigstens für ein bisschen Privatsphäre sorgen.
In der Silvesternacht kommt es in Köln zu sexuellen Belästigungen gegenüber Frauen, die sie begrapschen und bestehlen. Zu den Beschuldigten gehören viele illegale nordafrikanische Einwanderer sowie mindestens drei Flüchtlinge. Danach werden Flüchtlinge oft kollektiv, vor allem in sozialen Netzwerken, als Vergewaltiger bezeichnet.
Flüchtlinge, die in Duisburg untergebracht sind, haben einen offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel geschrieben und distanzieren sich darin von den Geschehnissen in Köln: „Wir sind Flüchtlinge, geflohen vor Krieg und Terror, vor Bomben, politischer Verfolgung und sexuellen Übergriffen. Viele von uns haben gefährliche Fluchtwege hinter sich. Wir sind froh, in Deutschland Schutz gefunden zu haben und sind dafür dem deutschen Volk und seiner Regierung sehr dankbar. Vor diesem Hintergrund sind wir entsetzt über das, was sich in der Silvesternacht in Köln zugetragen hat“, heißt es darin.
Der Bundestag erklärt Albanien, Bosnien und Herzegowina, Ghana, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Senegal und Serbien zu sicheren Herkunftsländern. Personen, die aus diesen Ländern Schutz suchen, haben kaum Chancen, ihre Antrag bewilligt zu bekommen.
Das syrische Flüchtlings-Ehepaar Tema und Mamon Alhamza, das im Landes-Asyl St. Barbara lebt, bringt eine Tochter zur Welt. Aus Dankbarkeit nennen sie das Baby Angela Merkel.
Serbien, Kroatien, Slowenien und Mazedonien schließen ihre Grenzen. Die Balkanroute, über die viele Flüchtlinge kamen, ist somit dicht.Der Familiennachzug für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz wird begrenzt.
Am 18. März schließt die EU mit der Türkei ein Abkommen, der auch als „Flüchtlingsdeal“ bezeichnet wird. Die Türkei soll verhindern, dass Flüchtlinge mithilfe von Schleppern auf die griechischen Inseln fahren können und ihren Grenzschutz verstärken. Dafür stellt die EU bis 2018 sechs Milliarden Euro zur Verbesserung der Lebensumstände der Flüchtlinge in der Türkei bereit.
„Aufgrund des im Jahr 2016 noch bestehenden Aufnahmedefizits der Stadt Duisburg wirkt sich das Abkommen nicht unmittelbar aus“, blickt Stadtsprecher Peter Hilbrands zurück. Zum Ende des ersten Quartals 2016 waren 6136 Personen in 21 Heimen und 807 Wohnungen untergebracht.
In Rheinhausen ziehen acht Familien in Duisburgs erste Traglufthalle für Flüchtlinge ein. Voll belegt, können dort 380 Personen untergebracht werden. Doch solange es möglich ist, will die Stadt eine zu große Dichte vermeiden. Also ziehen vorerst nur 300 Menschen ein.
Die Stadt legt ein Kommunalpolitisches Integrationskonzept vor. Es bezieht sich nicht nur auf Flüchtlinge, sondern auch Zugewanderte und beschreibt Leitlinien für verschiedene gesellschaftliche Bereiche und „Integration als Querschnittsaufgabe.“
Die Zahl der Flüchtlinge in Duisburg steigt erneut. Ende des dritten Quartals leben 6523 Personen in 24 Heimen und 955 Wohnungen.
Am 19. Dezember steuert ein islamistischer Terrorist einen Lkw mitten in eine Menschenmenge auf dem Berliner Weihnachtsmarkt. Zwei Tage später wird der Tunesier Anis Amri festgenommen. Die Spur führt auch an den Niederrhein. Amri hatte unter dem Namen Ahmed Almasri einen Antrag auf Asyl gestellt. In der Folge entbrennt eine hitzige Debatte über Behördenversagen und die Sicherheit in Deutschland.
Eher als angenommen wird das Landesasyl St. Barbara in Neumühl geschlossen. Auch städtische Notunterkünfte, vor allem umfunktionierten Turnhallen, werden reduziert.
Die Zahl der Flüchtlinge sinkt bundesweit. Dennoch will die CSU eine Obergrenze für Flüchtlinge in Deutschland einführen.
Oberbürgermeister Sören Link hat die Wahlen zum OB-Amt vorgezogen. Er wird mit 57 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Die AfD erreicht bei der Bundestagswahl in Marxloh oder Neumühl rund 30 Prozent.
Die Zahl der Asylsuchenden sinkt. Die Stadt kündigt an, bis Frühjahr 2018 weitere Heime zu schließen. Alle Menschen, die den Anerkennungsstatus haben, werden nur noch an der Memelstraße in Neudorf untergebracht. Schnell sollen auch die mit jeweils 1,5 Millionen Euro Mietkosten pro Jahr teuersten Unterkünfte schwinden: Die Traglufthalle an der Oberen Holtener Straße wird abgebaut, bis Anfang 2018 weicht die Traglufthalle an der Werthauser Straße. Ab April 2018 macht auch die Unterkunft Frankenstraße dicht.
Laut Bundesinnenministerium wurden von Januar bis Ende November knapp 22200 Menschen aus Deutschland zwangsweise in ihre Heimatländer zurückgebracht.
Die CSU will einen Masterplan Migration vorlegen. Asylverfahren sollen beschleunigt und die Hürden für Abschiebungen gesenkt werden. 231 933 Personen müssen zum Stichtag 31.März ausreisen, Von ihnen hatten jedoch 170 410 eine Duldung, das heißt ihre Abschiebung ist vorübergehend ausgesetzt, etwa wegen Krankheit oder fehlender Papiere, weil dann nicht überprüft werden kann, woher sie kommen.
2016 sind 117 Personen aus Duisburg abgeschoben worden, 2017 waren es 135. Freiwillig sind 2016 447 Menschen ausgereist, ein Jahr später waren 171 Personen.
3608 Asylbewerber, Anerkannte und geduldete Personen leben in Duisburg (Stand 31. Juli). Sie leben in 688 Wohnungen und 13 Heimen. „Seit 2015 haben rund 8500 anerkannte Flüchtlinge eine eigene Wohnung beziehen können“, erklärt Stadtsprecher Peter Hilbrands.
Das Zitat „Wir schaffen das“ wird nur noch selten in einem positiven Zusammenhang genannt. Stephan Koch, der Flüchtlingsbeauftragte der Katholischen Kirche und Vorsitzender der Flüchtlingshilfe Neudorf, erklärt: „Ich habe gerade Ferien im Osten gemacht. Im Jahr 2018 müssen wir uns fragen – wer ist denn eigentlich ,wir’ und was sind unsere Werte? Wenn du Deutscher bist, musst du dich an das Grundgesetz halten und da ist auch eindeutig das Recht auf Asyl genannt.“
Oberbürgermeister Sören Link hat sich kürzlich für Ankerzentren ausgesprochen. Mit Blick auf das Zitat der Bundeskanzlerin sagt er: „Den Geist hinter der Aussage finde ich erstmal richtig - Deutschland ist ein starkes Land. Und ja: Wir haben viel geschafft - allerdings wäre es ohne die Hilfsbereitschaft von so vielen freiwilligen Helfern in der Flüchtlingsarbeit nicht gegangen. Und gerade aus der kommunalen Perspektive muss ich sagen, dass die Herausforderungen riesig waren - und es immer noch sind. Insofern würde ich ergänzen: Wir schaffen das, wenn die Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Da gibt es noch viel zu tun.“