Duisburg. . Dieter Kehrberg (61) hat Jahre gebraucht, bis er als Opfer von Missbrauch und Medikamenten mit der Verarbeitung der Erlebnisse beginnen konnte.
- Dieter Kehrberg wurde wegen Misshandlungen im Elternhaus in Heimen untergebracht
- Auch dort erlitt er Missbrauch und quälende Behandlungen mit Psychopharmaka
- „Ich erwarte eine Anerkennung, dass jemand sagt: Ja, dir ist großes Unrecht geschehen“
Manchmal dauert es lange, bis ein Wunsch in Erfüllung gehen kann. Für Dieter Kehrberg ist es ein halbes Jahrhundert. Schwersten Missbrauch hat der Duisburger in den 1960er und 70er Jahren erlebt in Kinder- und Jugendheimen. Erst jetzt ist er in der Lage, sich damit auseinanderzusetzen, nachdem er seine Erlebnisse in einem Buch aufgeschrieben hat. „Ich erwarte eine Anerkennung. Dass jemand sagt: Ja, dir ist großes Unrecht geschehen“, sagt der 61-Jährige. 2017 könnte das Jahr sein, in dem sich seine Hoffnung erfüllt.
Die Geschichte von Dieter Kehrberg ist eine, die Betroffene in den vergangenen Jahren dutzendfach öffentlich gemacht haben. Was fast flächendeckend in kirchlichen Einrichtungen, Internaten und Kinderheimen geschah, veranlasst schließlich 2010 die Bundesregierung, den „Runden Tisch Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen“ einzusetzen. Er sei damals mit der Situation noch überfordert gewesen, sagt Kehrberg: „Ich wusste nicht, an wen ich mich wenden sollte, habe wohl auch zu schnell aufgegeben.“ Dass er medizinische und psychologische Hilfe nicht in Anspruch nahm, begründet er mit negativen Erfahrungen, die er in Heimen und Kliniken mit Ärzten machte. „Ich wollte lange überhaupt keine Medikamente nehmen, allenfalls Naturheilmittel.“
Glücklich nennt Kehrberg nur die ersten zehn Jahre seines Lebens. Kurz nach seiner Geburt in Meerane (Sachsen) hatte ihn seine Mutter vor einer Kinderkrippe ausgesetzt. Eine Pflegemutter zog ihn auf, bis ihn seine Eltern wieder zu sich nahmen – in Wuppertal begann der Leidensweg mit Prügel vom Vater und sexuellem Missbrauch durch den Bruder. Die Einweisung in das Kinderheim Neu-Düsselthal der Graf-Recke-Stiftung in Wittlaer beendete nur die Gewalt in der Familie. „Auch dort wurde ich mehrfach vergewaltigt. Obwohl ein Gruppenleiter das bemerkt hat, unternahm er nichts“, berichtet Kehrberg. Weil er ins Bett machte, sei er in Kinderkliniken in Bonn und Düsseldorf mit Medikamenten und Spritzen behandelt worden. Dieter Kehrberg erinnert sich an Anti-Epileptika wie Zentropil und Tegrital, an wochenlange Übelkeit und Kopfschmerzen.
Selbstständiges Leben spät gelernt
Schulbildung erfuhr er nur sporadisch. „Ich musste wiederholen, lernte nicht viel und gab auf.“ Bethel bei Bielefeld, Hagen-Breckerfeld, Beckhof und Schloss Holte in Ostwestfalen waren die Heimstationen nach seinem 14. Lebensjahr. „In Bethel ist aufgefallen, dass ich begabter war, als man angenommen hatte“, erinnert er. Und dass man ihn, eigentlich lebensuntüchtig, schließlich in ein selbstständiges Leben entließ: „Um Formulare auszufüllen, brauchte ich Hilfe, dass es Arbeitslosehilfe gab, wusste ich nicht.“ Alle Probleme „hab’ ich dann lange in Alkohol ertränkt“.
Immerhin schaffte er es, nach zwischenzeitlicher Obdachlosigkeit wieder Fuß zu fassen – machte einen Dreher-Lehrgang, holte Haupt- und Realschulabschluss nach, eine Ausbildung als Kfz-Mechaniker und schließlich, mit 37 Jahren, den Führerschein. Da kannte er schon seine Frau, die aus Dinslaken stammt. Wegen der Familie zog das Paar schließlich nach Duisburg. Nach einer Fortbildung hat er als Altenpfleger gearbeitet. Ein Beruf, der Spaß machte und ihm half, die Erlebnisse zu verdrängen, die er nicht vergessen konnte.
Das Schreiben hat ihm geholfen, Resonanz blieb aus
Sein Buch sei ohne die erhoffte öffentliche Resonanz geblieben, sagt Kehrberg. Doch das Schreiben habe ihm geholfen. „Ich will zeigen, dass es sich lohnt, zu kämpfen. Und dass es trotz meiner Geschichte möglich ist, nicht als Bettler vor dem Kaufhaus zu enden.“ Kehrberg fällt es schwer, mit den Erlebnissen abzuschließen. „Ich habe einen Hass gegen die Gesellschaft entwickelt, die das zugelassen hat.“ Mehrfach habe er das ehemalige Kinderheim Düsselthal aufgesucht. Lange war mehr nicht möglich.
Mittlerweile hat er bei der Anlaufstelle des Landschaftsverbandes Rheinland seinen Leidensweg geschildert, um eine Opfer-Entschädigung zu bekommen. Bei der Graf-Recke-Stiftung hat er einen Ansprechpartner für Missbrauchsopfer. „Ich bin jetzt soweit, dass ich solche Dinge tun kann“, sagt der 61-Jährige. „Ich möchte nicht nur abgespeist werden mit einer kleine Rente, sondern erwarte eine Entschuldigung“, sagt Kehrberg. „Vielleicht hätte ja etwas anderes aus mir werden können.“
Studien belegen zahlreichen Missbrauchsfälle
Der Landschaftsverband Rheinland (LVR) hat 2011 seine Rolle als aufsichtsführendes Landesjugendamt und als Träger eigener Jugendheime in den Jahren 1945 bis 1972 von Wissenschaftlern untersuchen lassen. In der Studie „Verspätete Modernisierung“ sowie in einer weiteren für das Frühjahr 2017 zur Veröffentlichung angekündigten Untersuchung („Lebensverhältnisse ehemaliger Heimkinder in der Psychiatrie und Behindertenhilfe“) wird auch der Einsatz von Medikamenten in Heimen und Kliniken beleuchtet. Hieraus werde sich ergeben, „welche Schritte für eine weitere Aufklärung notwendig sind“, so ein LVR-Sprecher.
Viele Fälle des Missbrauchs bis in die 1970er Jahre sind bekannt und vom LVR in der Studie „Verspätete Modernisierung“ veröffentlicht worden. Die Berater der Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder kennen eine Vielzahl solcher Schilderungen. Am Fonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ hat sich der LVR im Rahmen des NRW-Anteils beteiligt. Diese Beteiligung und die Arbeit der Anlauf- und Beratungsstelle sollen einen Beitrag zum Rechtsfrieden und der Rehabilitation Betroffener leisten, da Ansprüche nur schwer oder gar nicht durchgesetzt werden können. Der Hilfsfonds sieht Leistungen vor, die die Folgeschäden der Heimunterbringung abmildern sollen. Zum Ende des Jahres 2014 ist die Meldefrist für diesen Fonds abgelaufen.
Voraussichtlich ab Januar 2017 wird die von Bund, Ländern und Kirchen initiierte „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ ihre Arbeit aufnehmen. Sie richtet sich an Menschen, die zwischen 1949 und 1975 in Einrichtungen der Behindertenhilfe und psychiatrischen Einrichtungen Leid und Unrecht erfahren haben. Die Stiftung soll Betroffene beraten und Geldleistungen zur Verfügung stellen. Die Anlauf- und Beratungsstelle soll im Rheinland voraussichtlich beim LVR-Landesjugendamt angesiedelt werden und diese Aufgabe wahrnehmen.
Info: www.lvr.de