Duisburg. Am 17. Dezember 1891 ging im heutigen Duisburger Norden das Siemens-Martin-Stahlwerk der Gewerkschaft Deutscher Kaiser in Betrieb.
Es war kein gut laufender Betrieb, den August Thyssen im späten 19. Jahrhundert im heutigen Duisburger Norden übernahm. Aber es war der Kern eines Konzerns, der heute der größte Stahlproduzent Deutschlands ist. Und der in diesen Tagen ein Jubiläum feiern kann: Vor 125 Jahren – am 17. Dezember 1891 – wurde in Bruckhausen das Siemens-Martin-Stahlwerk in Betrieb genommen, wurde dort zum ersten Mal Stahl produziert.
Unternehmerisch betätigt sich August Thyssen schon zuvor in Duisburg, ist 1867 Mitbegründer eines Bandeisenwalzwerkes, das nach Angaben von Konzernarchivleiter Prof. Manfred Rasch auf dem Gelände des späteren Güterbahnhofs in der Stadtmitte lag. 1871 gründet Thyssen mit seinem Vater Friedrich in Styrum bei Mülheim ein Puddel- und Walzwerk. Einige Jahre später kündigen sich Kartelle an für Kohle und Roheisen, August Thyssen befürchtet einen Anstieg der Preise und entscheidet sich laut Rasch, seinem Unternehmen eine eigene Rohstoffbasis zu schaffen. Sein Blick fällt auf die Gewerkschaft Deutscher Kaiser – ein Bergbauunternehmen, dem es wirtschaftlich nicht gerade prächtig geht. Drei Vorteile sieht Thyssen: die fast unmittelbare Lage am Rhein samt Hafen Alsum, die geringen Kosten beim Erwerb und die Tatsache, dass das Unternehmen dem Bergrecht unterlag. Das erleichterte Enteignungen aus betrieblichen Gründen.
Zunächst aber beginnt Thyssen, in und um Bruckhausen großflächig Land zu kaufen. Die Bodenpreise sind niedrig, Sumpfland gibt’s reichlich in Beeck und Beeckerwerth. „Er kriegt eine riesige Flächen zusammen“, erläutert Rasch. Auf Enteignungen habe er erst zurückgegriffen, als in Neumühl ein Bahnanschluss geschaffen werden musste. Und, nennt der Archivchef einen wesentlichen Grund für den späteren Aufstieg des Bruckhauser Bergbauunternehmens: „Thyssen ist auf der richtigen Rheinseite.“ Er habe den richtigen Standort erkannt und direkt ausreichend Fläche gekauft für die Entwicklung des Unternehmens. „Er hatte den großzügigen weiten Blick auf alles.“
1890 beginnt Thyssen mit der „Umwandlung des Unternehmens von einer Zeche zu einem integrierten Hüttenwerk, dessen Hochöfen und Kokereien direkt auf der Kohle standen“, schreibt Rasch in einem Jubiläumsbeitrag für die Fachzeitschrift „Stahl und Eisen“. Vor den Hochöfen werden Stahlwerk und Walzwerk gebaut, vorübergehend kommt das Eisen beispielsweise aus Peine per Bahn.
„Rast ich, so rost ich“, so steht es als Devise in einem Werkbuch zum 70. Geburtstag von August Thyssen. 1891 beschäftigt das Werk in Bruckhausen 96 Mitarbeiter, 1892 sind’s 808, 1893 schon 1075, 1900 fast 5000 und 1910 stolze 8656.
Den Flächenbesitz hat Thyssen inzwischen auf den Raum zwischen Ruhrort und Wesel ausgedehnt. 1899 sind insgesamt 682 Hektar aufgekauft, 1911, erklärt Rasch, sind es 4192 Hektar, fast 16 mal so viel wie das Logport-Gelände in Rheinhausen. Industriell genutzt sind davon aber nur 906 Hektar, 1183 Hektar sind Wald und 1846 Hektar werden landwirtschaftlich genutzt. „August Thyssen denkt über seinen eigenen Zeitraum hinaus“, erklärt Rasch das Handeln des 1842 in Eschweiler geborenen Konzerngründers. Auch habe großzügiges Eigentum vor lästigen – weil teuren – Bergschadensregulierungen geschützt.
Im Dezember 1891 geht schließlich das Siemens-Martin-Werk in Betrieb, im Herbst 1895 wird der Grundstein für die beiden ersten Hochöfen gelegt. Im Juli 1897 geht der Hochofen 1 in Betrieb, im November 1898 der Hochofen 2, der dritte folgt im Februar 1899, der vierte ein Jahr später, die Nummer 5 dann 1901. Nach den stürmischen Aufbauzeiten machen die Hochofenbauer Pause bis 1913, als der Hochofen 6 hinzukommt.
Und als erster Hochofen einen Schrägaufzug bekommt zur Versorgung des Ofens mit Koks, Erz und Zuschlagstoffen, der den Transport in Handarbeit ersetzte. Den hatte Thyssen amerikanischen Vorbildern abgeschaut.
Unkonventionell war der Konzerngründer auch bei der Rekrutierung seiner führenden Mitarbeiter. Rasch: „Er hat jungen Leuten früh Verantwortung gegeben.“ Und es seien Männer, die teilweise nur eine Volksschulbildung aufzuweisen hatten, in den Vorstand aufgerückt. Der Erfolg gab Thyssen Recht.
Und auch die Tatsache, dass 125 Jahre nach der ersten Stahlschmelze im Ofen III des Siemens-Martin-Werkes am selben Standort immer noch erfolgreich produziert wird. Jeweils 15 Tonnen Fassungsvermögen hatten die sechs ersten Öfen, denen bald zwei weitere folgten. Schon 1895 ergänzt Thyssen das stark auf Schrott, der nicht immer in erforderlicher Menge und kostengünstig verfügbar ist, angewiesene Siemens-Martin-Werk durch ein Thomas-Stahlwerk.
Heute werden am Standort Hamborn/Beeckerwerth zwölf Millionen Tonnen Stahl pro Jahr hergestellt – und das in einer Qualität, von der wohl auch der überaus weitsichtige August Thyssen nur zu träumen gewagt haben dürfte.
Seit fünf Generationen begleiten die Willings den Stahlstandort im Duisburger Norden
Jörg Willing steht auf dem Dach der Thyssen-Krupp-Hauptverwaltung im Duisburger Norden und blickt auf das fast zehn Quadratkilometer große Werkgelände vor ihm. Wo einst Bauernland war, befindet sich heute Europas größter Stahlstandort, ein voll integriertes Hüttenwerk, auf dem die gesamte Produktion vom Rohstoff bis zum fertigen Flachstahl stattfindet. Als August Thyssen am 17. Dezember 1891 in Bruckhausen den ersten Stahl schmelzen ließ, war Jörg Willings Ur-Urgroßvater einer der damals 100 Mitarbeiter, mit denen die Geschichte des nun 125-jährigen Standortes begann, für den heute 13 000 Menschen arbeiten.
„Mich eingeschlossen ist die Geschichte des Unternehmens mit der Geschichte von 15 Willingschen Familienmitgliedern verbunden gewesen beziehungsweise aktuell noch verbunden“, sagt der 55-jährige Gebäude-Manager. Wenn er dienstlich zu einem der 80 Verwaltungsgebäude in seinem Verantwortungsbereich unterwegs ist, könnte er vier andere Willings besuchen: seinen Cousin Klaus Willing, seinen Bruder André Willing und die beiden Nichten Katharina und Sarah Willing.
Neue Berufsbilder, Generationsunterschiede und technologischer Fortschritt: Die historischen Veränderungen im Unternehmen spiegelten häufig auch die Familiengeschichte: „Ich wurde geboren, als der Käfer, für den auch wir Stahl lieferten, noch das Straßenbild der 60er Jahre in der jungen Bundesrepublik prägte“, so Jörg Willing. Der Vater Werner fing 1954 im Unternehmen an, ein Jahr, bevor die Warmbreitbandstraße im Beisein des damaligen Kanzlers Konrad Adenauer als ein Zeichen des erfolgreichen Wiederaufbaus der Bundesrepublik eröffnet wurde.
„Mein Vater war ein sparsamer und sehr familienorientierter Mann. Mit drei Generationen haben wir damals in unserem Häuschen in Duisburg-Röttgersbach auf 85 Quadratmetern gelebt. Heute sind es nach Ausbauten für viel weniger Personen 150 Quadratmeter. Das Familienhaus ist quasi mit der Hütte mitgewachsen.“ Am Esstisch gehörten Gespräche über den Generationen verbindenden Arbeitgeber Thyssen zum Alltag.
Sein Bruder André Willing arbeitet in der Materialversorgung und kümmert sich zum Beispiel darum, dass Hilfs- und Betriebsstoffe in die Betriebe und Büros auf dem gesamten Werksgelände geliefert werden, jenem Gelände, das 1964 als „Werk im Grünen“ erbaut wurde, um den Mitarbeitern und Nachbarn eine ästhetisch ansprechende Industrieumgebung zu bieten.
Wenn sich Jörg Willing mit seinem Onkel Heinz trifft, kann der 92-Jährige von diesen Ereignissen als Zeitzeuge berichten: „Mein Onkel hat das Unternehmen als Betriebsrat begleitet, davon 20 Jahre im Aufsichtsrat. Er hat viele Jahrzehnte im Unternehmen – und natürlich vor allem in der Entwicklung der Mitbestimmung – live erlebt.“
Die Generation des Onkels in der Familie zeigt: Viele Berufe waren handwerklich geprägt und auch wenn es einige der Tätigkeiten in ähnlicher Weise noch gibt, sind sie heute stark automatisiert. Der vom Ur-Urgroßvater erlernte Beruf des Drehers zum Beispiel heißt heute Zerspanungsmechaniker und beinhaltet das Arbeiten mit computergesteuerten Werkzeugmaschinen für Präzisionsbauteile.
Die beiden Nichten von Jörg Willing haben ihre Ausbildungen bei Thyssen-Krupp als Bürokauffrauen gemacht. Sie gehören der Generation der so genannten „digital natives“ an, die mit dem Smartphone groß geworden sind und sich nicht mehr vorstellen können, dass Jörg Willing und seine Kollegen in den 80er Jahren gemeinsam ein Telefon benutzten und auf Schreibmaschine schrieben.
Der Ur-Urgroßvater kam Ende des 19. Jahrhunderts wie damals viele vom Land in die Stadt, um in der aufblühenden Industrie zu arbeiten, sich ein besseres Leben zu ermöglichen. „Unabhängig davon wie die wirtschaftliche Lage war, aus jeder Generation haben hier Familienmitglieder ihre Ausbildung gemacht“, so Jörg Willing. Die Tochter Lena hat eine Ausbildung zur Industriekauffrau abgeschlossen und studiert nun in Essen. Der Vater hofft, dass sie danach wieder zu Thyssen-Krupp zurückkommt und die Zukunft des Unternehmens weiter mitgestaltet.