Ihren weißen Stock nennen Elfriede Schütz und ihre Kollegen nur „unser Auge“. Er ist für sie Orientierungshilfe und Erkennungszeichen, denn alle vier sind blind oder stark seheingeschränkt. Den morgigen „Tag des weißen Stocks“, 15. Oktober, nehmen die vier Kollegen zum Anlass, um über ihren Alltag in der Dunkelheit zu berichten – und an alle Sehenden zu appellieren: „Schaut besser hin!“
Im Hochfelder Industriegebiet hat die Blindenmanufaktur Kaniss ihren Sitz. In der Werkstatt arbeiten seit 30 Jahren Menschen mit Sehbehinderung, in der alten Industriehalle zupfen Elfriede Schütz und ihre fünf Kollegen Ziegen- oder Rosshaar zu Bündeln und fädeln diese in Besen und Bürsten ein. Das Wort „sehbehindert“ hören sie nicht gerne. „Wir sind nicht behindert, sondern blind“, stellt Zabrah Loynab klar, der jeden Tag von seinem Wohnort in Münster aus mit dem Zug nach Duisburg fährt.
Vieles hat der 42-Jährige bereits auf seinen Wegen erlebt. „Manche Sehende sind blinder als Blinde“, sagt Zabrah. „Ich weiß nicht, wie oft mir schon der Stock weggetreten wurde.“ Zwar geschehe dies nicht mit Absicht, dennoch sei es ärgerlich. „Viele schauen nicht richtig hin oder gucken beim Laufen auf ihr Smartphone.“ Erst neulich sei er auf dem Bahnsteig gegen einen Mann gelaufen, der auf den weißen Bodenmarkierungen gestanden habe. Diese „Taktilen Leitlinien“ dienen als Orientierung für Blinde und sollten daher frei gehalten werden. „Das ist nicht nur ärgerlich, sondern tut beim Aufprall weh.“
Negativ-Erfahrungen im Alltag hat auch Elfriede Schütz gemacht. „Neulich wollte ich eine Straße überqueren, an der es keine Blindenampeln gibt“, erklärt die Marxloherin. Diese Blindenampeln sind mit gelben Kästen ausgestattet, die piepsen oder klacken, je nachdem ob die Ampel grün oder rot zeigt. „Vor mir liefen Leute über die Straße, also dachte ich, es sei Grün.“ Im letzten Moment konnte sie ein anderer Passant daran hindern, auf die Straße zu laufen – die Ampel zeigte Rot. „Viele wollen die Bahn noch erwischen und rennen über die Straße. Für uns ist das sehr gefährlich.“
Spezielle Blinden-Sitze im Bus
„Ohnehin sollte es überall Blindenampeln geben“, findet auch Skender Bajraktaraj. Zudem plädiert er dafür, im Bus die Sitzreihe hinter dem Fahrer als Blinden-Sitze auszuweisen. „Für Rollstuhlfahrer oder Kinderwagen gibt es einen extra Bereich, dann sollte es auch einen für Blinde geben“, findet der 28-Jährige. Häufig müsse er sich einen Platz hinten suchen. „Auf dem Weg dorthin stoße ich ein Kind an oder trete einem Hund auf die Pfote“, erklärt er die Problematik.
Waldemar Naumow ist seit frühester Kindheit erblindet. „Ich komme gut klar im Alltag“, sagt er. Dennoch würde auch er sich mehr Aufmerksamkeit seiner Mitmenschen wünschen. „Da ich in der Innenstadt wohne, komme ich oft an Demos vorm Hauptbahnhof vorbei“, sagt der 34-Jährige. „Dort verliere ich dann im lauten Trubel die Orientierung.“ Schön wäre es, wenn die Menschen ihm Platz machen würden, sobald sie den weißen Stock sehen. „Aber viele bemerken das nicht.“ Gerne sei er daher mit seinen beiden Kindern unterwegs, acht und zehn Jahre alt. „Die helfen mir und führen mich“, sagt er. So bekämen sie von klein auf die Einstellung vermittelt, Rücksicht zu nehmen, findet Waldemar. Und mit offenen Augen durchs Leben zu gehen.