Duisburg. Vor dem Gespräch mit der Kanzlerin nehmen Marxloher Bürger an einem-Workshop teil - mit Karteikärtchen und Filzstiften. Manche finden das “Quatsch“.
Bevor die Kanzlerin zum Gespräch bittet, müssen ihre Gäste erst die Schulbank drücken. So kommt es zumindest einigen Eingeladenen vor. Denn im Veranstaltungsraum in Duisburg-Marxloh müssen sie am Dienstagmorgen zunächst über die Frage grübeln, was Lebensqualität in Deutschland eigentlich ausmacht.
Der "Bürgerdialog" von Regierungschefin Angela Merkel (CDU) im Duisburger Norden ist seit längerem geplant. Bei den Treffen in der der Reihe "Gut leben in Deutschland" will die Kanzlerin mit Einwohnern verschiedener Städte ins Gespräch kommen. Mitte Juli sorgte einer dieser Besuche für Aufsehen, weil in Rostock ein palästinensisches Flüchtlingsmädchen in Tränen ausbrach.
Bürgerdialog soll vorbereitet werden
Nun ist Merkel also in Marxloh - ein Stadtviertel, dessen Ruf zuletzt unter Straßengewalt, Angriffen auf die Polizei und der Angst vor einem entstehenden rechtsfreien Raum litt. Der Zeitpunkt des Treffens könnte aus Sicht vieler Teilnehmer des "Bürgerdialogs" kaum passender sein. Vier Stunden vor dem hohen Besuch haben sie an runden Tischen Platz genommen - mit 60er-Jahre Tapete, roter Oma-Lampe und Schwarz-Weiß-Fotos an der Bilderwand. Sie sollen das Gespräch mit Merkel vorbereiten.
Vertreter von Kirche, Stadt oder Wohlfahrtsverbänden sind gekommen, ebenso Ehrenamtliche von Sportvereinen, Mediziner örtlicher Kinderarztpraxen oder Nachbarn, die seit 60 Jahren in Marxloh leben. Eingangsaufgabe: "Was ist für Sie Lebensqualität?" Auf roten Karteikärtchen notieren die Teilnehmer mit Filzstiften, was sie sich darunter vorstellen. "Wir-Gefühl", "Integration" kritzeln sie, "Menschlichkeit" oder "Arbeiten" steht auf den Notizen - aber auch: "Sicherheit (Angst)". Der Gruppenleiter lobt: "Sie sind schon nah dran an der Abstraktionsebene."
Echte Diskussionen über Missstände vor Ort werden vermisst
Noch bevor sich die Teilnehmer untereinander austauschen können, steht die nächste Aufgabe an: Die Kärtchen müssen jetzt mit Reißzwecken an die Pinnwand geheftet werden. Danach sollen die Männer und Frauen die wichtigsten Punkte mit roten Stickern markieren. "Das ist Quatsch", sagt Martina Herrmann vom Forum evangelische Jugendarbeit Duisburg. "Wir bewegen uns nur auf Allgemeinplätzen." Sie vermisst echte Diskussionen über die Missstände vor Ort - "und kein: Ich wünsch' mir den Weltfrieden", sagt Herrmann.
Pater Oliver, der in einer Sprechstunde jede Woche mit einem Ärzteteam Dutzende Bedürftige versorgt, hat sich einen roten Aufkleber an die Stirn geklebt. Der Workshop sei schlecht vorbereitet, kritisiert er. Andere an seinem Tisch sitzen mit ausdruckslosem Gesicht und verschränkten Armen da.
Kanzlerin soll Druck auf lokale Politiker ausüben
Muhiddin Güney, der seit 37 Jahren in Marxloh wohnt, hofft hingegen, dass die Kanzlerin mit ihrem Besuch Druck auf lokale Politiker ausüben kann. "Die größte Barriere ist die Sprache. Die Stadt müsste Dolmetscher einstellen", fordert er. Der stellvertretende Vorsitzende des "Runden Tisches Marxloh", Thomas Mielke, wünscht sich, dass beim Workshop "ein ungeschöntes Bild" herausgearbeitet wird. Doch wieder wird die rege Diskussion unterbrochen. Zwei Stunden, mehrere Kaffeepausen, dann ist das Seminar bald vorbei. Die Kanzlerin kann kommen. (dpa)