Es ist absolut still im Lehmbruck- Museum. Aus dem Hintergrund taucht eine Art Prozession von rund 15 Paaren auf. Jeweils ein Teil des Paares hat die Augen mit einer Maske bedeckt. Hand in Hand betreten sie leise die Spielfläche. Karolina Zernyte, Theatermacherin aus Vilnius, inszeniert das Stück „Tense in Sense“, das alle Sinne bis auf die Augen ansprechen soll – zumindest für einen Teil des Publikums. 15 Besucher der Premiere im Rahmen des „Platzhirsch“-Festivals – Blinde oder eben Sehende mit Maske – konnten spontan mitmachen und sich ungewöhnlichen sinnlichen Erfahrungen aussetzen.

Das Theater von Zernyte ist eine koordinierte Folge von sinnlichen Wahrnehmungen und spielerischen Situationen, die das Ensemble für Akteure aus dem Publikum schafft. Mal werden sie gestreichelt, mit Gegenstanden wie Federn, Tüchern oder Bällen berührt, mal herzhaft geknufft oder mit Süßigkeiten gefüttert. Dann wieder laufen die Mitglieder der Companie mit Wasserflaschen herum, was klingt, als würden sie den Boden unter Wasser setzen.

Immer komplexer werden die Situationen. Ein blindes Mädchen singt und spielt auf dem Keyboard einen Popsong, man beginnt zu tanzen. Dann werden Begriffe wie „Teufel“ auf eine Tafel geschrieben und die Sehenden hüpfen herum wie ein Haufen Kobolde oder nehmen ihre Mitspieler in den Arm.

Schon für den sehenden Teil des Publikums baut sich eine verblüffende Spannung auf. Zunächst sehen sie beim mitspielenden, nicht sehenden Teil des Publikums Vorsicht und Distanz. Doch im Laufe des Stücks ändern sich die Reaktionen, sie werden schneller und intensiver. Besonders aktiv ist eine junge Frau, die Energie ausstrahlt, manche Situationen förmlich sucht oder auch deutlich macht, was sie nicht will. Gegenpol ist ein älterer Blinder, der Gelassenheit ausstrahlt.

Erinnerungen an die Kindheit habe das Stück in ihr geweckt, erzählt eine der Mitspielerinnen aus dem Publikum anschließend. Eine andere berichtet, wie sie nach und nach die Zuschauer vergessen und die Situation als angenehmen Kontrast zur Reizüberflutung empfunden habe. Als man ihr nach der gut einstündigen Performance die Augenklappe abnahm, habe sie sogar gedacht: „Ich will das jetzt nicht.“