Duisburg. Der Politologe Walter Manoschek spürte in Duisburg einen mutmaßlichen NS-Kriegsverbrecher auf, den die Behörden bis dahin nie angeklagt hatten.
Zu Kriegsende soll der Duisburger Adolf Storms an einem Massaker in dem österreichischen Ort "Deutsch Schützen" beteiligt gewesen sein, bei dem 60 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter ohne Befehl hingerichtet wurden. Laut Zeugenaussagen erschoss Storms hilflose Menschen.
Die Justiz hatte in der Vergangenheit nie gegen den Duisburger ermittelt. Erst als er 88 Jahre alt war, informierte der österreichische Wissenschaftler Walter Manoschek die Staatsanwaltschaft. Kurz nachdem diese Anklage erhoben hatte, verstarb der Duisburger. Zuvor hatte ihn Walter Manoschek aber noch interviewt.
Die Gespräche über mehrere Tage verfilmte der Politologe in einer Dokumentation und veröffentlichte kürzlich bei der Leipziger Buchmesse darüber ein Buch: „Dann bin ich ja ein Mörder! Adolf Storms und das Massaker an Juden in Deutsch Schützen“. Die Redaktion sprach mit Autor Walter Manoschek über sein Treffen mit dem mutmaßlichen Kriegsverbrecher, den er einen „Massenmörder“ nennt.
Herr Manoschek, wie öffnet ein SS-Oberscharführer die Haustür?
Walter Manoschek : Wie jeder 88-Jährige. Einem Massenmörder sieht man seine Taten ja nicht an. Er war körperlich angeschlagen, aber geistig hell. Als er mich hinein bat, war ich erstaunt. Denn die Chance, dass Adolf Storms bereit war, mir ein Interview zu geben, war eins zu 100. Er wusste nichts von meinem Besuch. Ich hatte spontan entschieden nach Deutschland zu fliegen und läutete unangekündigt an seiner Haustür.
Gegen die Mittäter des Massakers wurde 1946 und 1956 bereits in einem NS-Prozess Anklage erhoben. Außer gegen Adolf Storms. Wie sind Sie auf ihn aufmerksam geworden?
Manoschek : In einem meiner Seminare an der Uni Wien fiel einem Studenten beim Aktenstudium auf, dass Adolf Storms zwar in den Prozessakten namentlich erwähnt war, aber nie zur Verantwortung gezogen wurde. Also suchten wir ihn im Telefonbuch. Dort gab es nur eine Person mit dem Namen. In Duisburg. Ich rief ihn an und erzählte ihm, dass ich gerade an einem Projekt zu dem Thema 'Erinnerung von SS-Leuten' arbeite. Er schien gesprächig, also flog ich ohne sein Wissen zu ihm.
Storms konnte sich nicht an das Massaker am 29. März 1945 in Deutsch Schützen erinnern. Im Film schweigt er lange Zeit. Wie sind Sie während der Interviews vorgegangen?
Manoschek : Unsere Arbeitsbindung war distanziert. Ich bin als Therapeut reingegangen, habe in ihm aber keinen Massenmörder gesehen. Zwar war er für mich der Täter, doch ich klagte ihn nie an und überlegte mir jeden Satz genau. Er hätte das Ganze auch abbrechen können. In unserem ersten Gespräch kam ich erst zum Schluss auf das Kriegsende zu sprechen. Storms wusste nicht mehr exakt, wo er sich zu diesem Zeitpunkt aufgehalten hatte. Erst als ich ihm ein paar Städte entlang der österreichischen Grenze vorlas, erinnerte er sich an Deutsch Schützen. Doch mehr wusste er nicht. Am nächsten Tag besuchte ich ihn noch einmal. Diesmal mit einem Kameramann. Ich beschrieb ihm den genauen Hergang des Massakers, doch er hatte erneut kein Erinnerungsvermögen.
Hatten Sie das Gefühl, dass er vortäuschte sich nicht zu erinnern und Sie anlog? Dann wäre es doch das Einfachste für ihn gewesen die Sache abzubrechen.
Manoschek : Ich weiß bis heute nicht, warum er sich nicht erinnerte. Aber ich halte es für unwahrscheinlich, dass er mich anlog. Wir waren lange zusammen und ich hatte stets das Gefühl, dass er sich erinnern will. Einmal rief er mich an und sagte: ‘Wenn das stimmt, was Sie sagen, dann bin ich ja ein Mörder.’ Zum ersten Mal war er höchst emotional. Und das war nicht geschauspielert. Er bat mich, ihm zu helfen, seine Erinnerung zurückzugewinnen. Von da an ließ ich einen Krankenwagen bereitstellen. Denn es hätte sein können, dass er die Erinnerung zurückgewinnt und ich wollte keinen alten Mann auf dem Gewissen haben.
Doch er erinnerte sich in keinem der Interviews. Wenn er die Erlebnisse des Massakers aus dem Gedächtnis verloren haben sollte, wie erklären Sie sich dann den Prozess des Vergessens?
Manoschek : Ich denke, dass Storms bei dem Massaker nicht emotional betroffen war und somit die Erfahrungen nicht vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis gelangt sind. An Situationen in denen er in Lebensgefahr war, konnte er sich gut erinnern. Doch eine Juden-Erschießung führte seine SS-Kampfeinheit beim Frühstück aus. Das war nichts Besonderes. Ich vermute auch, dass es nicht seine erste Erschießung von Juden gewesen ist. Einmal sagte er ‘Ich habe mich nicht vorgedrängt beim Erschießen.’ Dieser Satz passt nicht auf eine Gefechtssituation.
Storms hat Zeit seines Lebens keinen Hehl daraus gemacht, dass er bei der Waffen-SS war. Glauben Sie, dass er mit anderen Personen über die Juden-Morde gesprochen hat?
Manoschek : Das glaube ich nicht. Wir haben heute gar keine Sprache mehr dafür, was damals passierte. Er hätte sagen können. ‘Ich habe Juden erschossen, das war damals ok.’ Doch das stößt an die Grenzen des Sagbaren. Und dies könnte wiederum zum Verdrängen beigetragen haben. Storms führte ein braves, bürgerliches Leben. Selbst in Ihrer Zeitung haben Sie schon über ihn berichtet, als er für seine . Völlig unscheinbar. Doch er war stets ein überzeugter Nazi und hat sich auch so aufgeführt. Mir war er unsympathisch.
Wie bewerten Sie die Tatsache, dass er zwar zur Fahndung ausgeschrieben war, aber nie nach ihm gesucht wurde?
Manoschek : Die Unfähigkeit der österreichischen Behörden ist unglaublich. Nicht nur 1946 hätte man ihn suchen müssen. Auch als einer der Mittäter 1956 in Wien vor Gericht stand, ebenso wie 1995, als das Massengrab entdeckt wurde, wäre das österreichische Innenministerium dazu verpflichtet gewesen rechtliche Schritte einzuleiten. Diese Fälle hat es zu hunderten gegeben. Es kam bei so vielen Angeklagten nie zum Prozess, so vergeht viel Zeit. Zeit, in der man vergessen oder verdrängen kann.
Das Buch „’Dann bin ich ja ein Mörder!’ Adolf Storms und das Massaker an Juden in Deutsch Schützen“, Wallstein Verlag, ist für 24,90 Euro im Buchhandel erhältlich.
Vorgestellt wurde das Buch Mitte März auf der Leipziger Buchmesse.
Der Dokumentarfilm (68 Minuten), den der Wiener NS-Forscher Walter Manoschek bereits im Jahre 2012 selber produzierte, ist dem Buch beigelegt.