Dortmund. Die Dortmunder Nordstadt hat einen zweifelhaften Ruf. Aber man kann sie auch anders sehen. Eine Führung zu den schönen Seiten im Problemviertel.

Wäre es damals nach dem vorausschauenden Magistrat gegangen: Es hätte die Dortmunder Nordstadt nie gegeben, schade. Denn als die preußische Regierung ihn im 19. Jahrhundert anwies, die Stadt auszubauen, weil der Zuzug ungezählter Arbeiter und ihrer Familien zu erwarten sei, gab der die schöne Antwort: Man habe nicht vor, auf den Industrieschwindel hereinzufallen. Das lege sich schon wieder.

Über diesen meinungsstarken Blick in die Zukunft hat sich die Regierung einfach so hinweggesetzt. Gebaut werden musste. Wolfgang Kienast erinnert gerade an die kuriose Vorhersage, er steht mit 25 Gästen seiner Führung mitten in der Nordstadt und will sie von einer anderen Seite zeigen: das Problemviertel als Schönheit. Kopf hoch, Nordstadt!

„Es lohnt sich, in der Nordstadt den Blick nach oben zu richten“

Der Blick nach oben ist oft lohnend - aber nicht immer.
Der Blick nach oben ist oft lohnend - aber nicht immer. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Denn „es lohnt sich, in der Nordstadt den Blick nach oben zu richten“, sagt der 56-jährige Stadtführer. Oberhalb der oft gefliesten, gelegentlich beschmierten Erdgeschosse, der Kioske, einfachen Ladenlokale und Parterre-Wohnungen tut sich an etlichen Fassaden eine andere Welt auf: die des Jugendstils um 1900. Der dringende architektonische Wille zu Ornamenten, Verzierungen, Dekoration blüht in der Nordstadt. Längst nicht überall, aber an vielen Stellen.

Und so ziehen 25 Frauen und Männer durch die Nordstadt und gucken entschlossen nach oben. Haus guck in die Luft. Sie sehen: Stuck. Stilisierte Drachen, Krokodile, Adler. Ranken und quadratische Blumen. Schiffe mit und ohne Schornstein. Sphinxe, Köpfe und Portraits. Bärte, die zu Hecken werden. Der Aha-Effekt kommt auch diesmal in der streckenweise im Original erhaltenen Braunschweiger Straße: „Das hätte ich mir nicht vorgestellt“, sagt Frau zu Freundin.

Über ganz Dortmund hinweg stehen vielleicht 1000 Jugendstil-Häuser

Wie der Jugendstil nach Dortmund kam, das weiß man nicht so richtig. Über die ganze Stadt verstreut mag es noch 1000 solcher Häuser geben, sie sind nicht alle erfasst, sagt der Architektur-Professor Wolfgang Sonne. Stilbildend könnte das erste Theater gewirkt haben, 1902 erbaut. Es überlebte den Krieg, aber nicht die Stadtväter. Sie beschlossen in den 50er-Jahren in ihrer weitsichtigen Art, die wir ja schon kennengelernt haben: das Theater abzureißen, das alte Ding. „Es wäre“, sagt Sonne, „heute DAS Jugendstiltheater in Deutschland“.

Vorbei. Die Komponisten Albert Lortzing und Joseph Haydn aber sind noch da, zumindest als ornamentale Porträts an einem Gebäudes am Nordmarkt. „Die Besitzer wollten damit zeigen, dass sie etwas von Kultur verstehen“, sagt Wolfgang Kienast.

Knaben sitzen auf Fässern, daneben Baccus und Gambrinus

Wolfgang Kienast führt die Gruppe durch die Nordstadt:
Wolfgang Kienast führt die Gruppe durch die Nordstadt: © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Das Haus auf der gegenüber liegenden Seite setzt andere kulturelle Schwerpunkte: Putten-artige Knaben sitzen auf Fässern, daneben Baccus und Gambrinus, hoch die Tassen! An dieser Stelle lernen wir: Die einflussreichen Dortmunder Brauereien versuchten damals in einer Art frühen Image-Kampagne, dem vermaledeiten Gott des Weines etwas entgegenzusetzen. Eben diesen Gambrinus.

Aber weiter. Und die Nordstadt guckt erstaunt zurück. Wo die Gruppe stehen bleibt und ein Haus mustert, schauen Kinder, hinter Fensterscheiben stehend, Frauen, in offenen Fenstern liegend, auf die Gruppe und wundern sich. Beim Gang durch die Braunschweiger Straße hält ziemlich abrupt neben der Gruppe ein Kastenwagen. Fragt der Beifahrer: „Was macht ihr da?“ Sagt ein Mit-Läufer: „Führung . . . Häuser.“ Der Kastenwagen fährt unter brüllendem Gelächter weiter.

Führung, in der Nordstadt, ja, sicher. Die Menschen kennen das nicht, wissen, dass sie in einem Viertel von zweifelhaftem Ruf wohnen. So gibt es diesen Jugendstil-Marsch schon länger, aber selten, und aus den sattsam bekannten Gründen fand er auch eine Zeit lang gar nicht statt oder nur im kleinsten Kreis.

„Straßenköterjugendstil“: eine wilde Mischung der Stile

„Alle diese Häuser sind Originale“, sagt Kienast. Anders als viele sonstige Arbeiterviertel in Deutschland wurde die Nordstadt im 2. Weltkrieg zwar stark beschädigt, aber nicht in Grund und Boden gebombt. Und danach: wurde hier nicht allzu viel investiert, um sie nach Art der 60er-Jahre schön hässlich zu sanieren. Heute sind nicht alle Originale alle in gutem Zustand, doch an manchen betonen Besitzer ihre Besonderheit auch geschmackssicher durch schreiende Farben.

Wobei man sagen muss: Gern sind an diesen Gebäuden die Stile auch gründlich gemischt. Da finden sich an ein- und demselben Gebäude Jugendstil- und Heimatstil, daneben wieder Barock und Neo-Renaissance, eine Prise Klassizismus am Dach und ein rätselhaftes, neuzeitliches Betontürmchen noch darüber. Kienast nennt das „Straßenköterjugendstil“ - eine wilde Mischung. Und damit ist die Nordstadt wieder ganz bei sich.