Castrop-Rauxel. Rosel Strauch sitzt im Rollstuhl. Ihre Anträge auf Erhöhung der Pflegestufe wurden abgelehnt. Durch die Pflegekosten rutschte sie in die Pleite.
Irgendwie müsse man ja seine gute Laune behalten, sagt Rosel Strauch und grinst: "Die jungen Leute sagen manchmal, ich wäre eine coole Frau." Dann dreht sie langsam ihren Rollstuhl und greift nach einem Blatt Papier. Darauf steht eine ganz einfache Auflistung von Einnahmen und Ausgaben. Und die sieht auf den ersten Blick gar nicht so schlimm aus: Die Ausgaben sind geringer als die Einnahmen. "Aber das ist noch nicht alles. Essen, Fußpflege und Versicherungen habe ich da zum Beispiel noch gar nicht mit eingerechnet. Das Geld reicht letztlich nicht", sagt Strauch.
Die Rauxelerin ist schon seit zehn Jahren auf Hilfe im Haushalt angewiesen. Nachdem ihr im Jahr 2006 ein Hirntumor entfernt wurde, verlor die heute 83-Jährige ihr Sehvermögen. Auf dem rechten Augen ist sie inzwischen völlig erblindet. Das rechte Bein ist lahm. Genauso wie die rechte Hand. Seit 2013 sitzt Strauch im Rollstuhl und war - wie sie sagt - schon seit vielen Jahren nicht mehr vor der Tür. Ihr Leben spielt sich ausschließlich in den eigenen vier Wänden ab.
Strauch will nicht im Heim leben
Die jungen Leute, von denen sie spricht, das sind diejenigen, die sie pflegen. Früher haben das Verwandte übernommen. Heute schaffen sie es nicht mehr, denn die Pflege, die die Rentnerin benötigt, ist zu umfangreich. Strauch hat sich daran gewöhnt, dass mehrmals am Tag Pflegekräfte zu ihr kommen, um sie aus dem Bett in den Rollstuhl und wieder zurück zu heben, sie zu waschen und ihr das Essen zuzubereiten.
Im Heim zu leben kommt für die 83-Jährige nicht infrage: "Ich habe mal sechs Wochen im Heim gelegen. Aber länger hätte ich es dort auch nicht ausgehalten. Das Personal war total überfordert. Und wenn ich mit jemandem auf dem Zimmer liegen müsste, der den ganzen Tag nur Heimatfilme guckt, würde ich ja wahnsinnig werden", sagt sie. Ihren Humor hat Strauch noch nicht verloren. Im Gegensatz zu ihrem finanziellen Polster. Denn das schrumpfte mit zunehmendem Pflegebedarf in den vergangenen beiden Jahren deutlich.
400 Euro Pflegekosten aus eigener Kasse
Schon mehrfach hat sie während dieser Zeit die Pflegestufe 2 beantragt, die mittlerweile - seit der Umstellung Anfang des Jahres - dem Pflegegrad 3 entspricht. Würde ihre Krankenkasse, die Barmer, ihren Antrag genehmigen, bekäme Strauch monatlich knapp 600 Euro mehr. Doch bislang ist das nicht geschehen - obwohl eine Mitarbeiterin des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ihr das nach der Begutachtung bereits zweimal zugesichert habe. Stattdessen wurde der Antrag abgelehnt. Die Rentnerin zahlt weiterhin einen Anteil von mehr als 400 Euro Pflegekosten pro Monat aus eigener Tasche.
Die Barmer zeigte sich auf Anfrage unserer Redaktion irritiert in Bezug auf das Verhalten des MDK. Die Aussage sei nicht nachvollziehbar, da die Aufgabe des MDK vor allem darin bestehe, "zu begutachten, ob die Voraussetzungen für Leistungen der Pflegeversicherung vorliegen. Die leistungsrechtlichen Entscheidungen liegen dagegen allein bei der Pflegekasse", so die Barmer in einer Stellungnahme. Rosel Strauch habe ihren letzten Antrag Ende vergangenen Jahres gestellt. Da wurde die Pflegestufe noch nach Minuten berechnet.
Komplizierte Beurteilung des Pflegegrades
Für die Pflegestufe 2 sei ein täglicher Hilfebedarf von 180 Minuten oder mehr nötig gewesen, inklusive 120 Minuten Grundpflege. Beide Werte habe Strauch jedoch nicht erreicht - weder bei der ersten Begutachtung durch den MDK noch bei einer Folgebegutachtung aufgrund ihres Widerspruchs. Zudem habe die Krankenkasse überprüft, "ob sich die Situation zugunsten von Frau Strauch verbessern würde, wenn sie einen Antrag nach neuem Recht gestellt hätte".
Das Ergebnis: "Voraussichtlich nicht." Man könne das allerdings "nicht mit Gewissheit sagen, zumal ein entsprechender Antrag bislang nicht vorliegt". Kaum zu glauben für Strauch. Denn wenn sie auf die seit Anfang dieses Jahres geltenden Kriterien zur Beurteilung des Pflegegrades schaut, kann sie die Einschätzung ihrer Krankenkasse nicht nachvollziehen: Mobilität, Gestaltung des Alltagslebens, Selbstversorgung - all das sei in ihrem Fall doch wohl kaum gegeben.
Ganz so einfach ist es mit der Beurteilung allerdings nicht, wie Verena Querling von der Verbraucherzentrale NRW auf Anfrage unserer Redaktion erklärt: "Die Berechnung des Grades ist unglaublich kompliziert", sagt sie. Das alte Minutenzählen zur Einschätzung der Pflegestufe sei zwar keinesfalls besser, aber wesentlich transparenter gewesen als das neue Modell.
Anwalt eingeschaltet
Dass Rosel Strauch inzwischen einen Anwalt eingeschaltet hat, ist aus Sicht Querlings verständlich. Allerdings könne es eine ganze Weile dauern, bis in dem Verfahren ein Ergebnis vorliegt - inklusive richterlicher Anordnung eines medizischen Gutachtens sogar bis zu eineinhalb Jahre. Viel zu lange für Strauch, um deren Finanzen es jetzt schon schlecht bestellt ist.
Und was geschieht nun mit Rosel Strauch? Verena Querling kann die 83-Jährige zunächst einmal beruhigen: "Dass Leute plötzlich ohne Pflegedienst dastehen, habe ich zumindest noch nie gehört." Robin Wöhlke von der Diakoniestation, deren Mitarbeiter Rosel Strauch aktuell betreuen, versichert auf Anfrage unserer Redaktion: "Wir lassen unsere Kunden auf keinen Fall alleine."
"Im Endeffekt bin ich pleite"
Dass Anträge auf Pflegegrade abgelehnt werden, geschieht laut Wöhlke häufig. Dass Betroffene deswegen in Schulden geraten, ebenso. Strauch habe man sogar einen Rabatt gewährt, damit die Rentnerin die offenen Rechnungen bei ihrem vorherigen Pflegedienst bezahlen könne. Aus Sicht der Diakonie-Mitarbeiter erfülle Strauch die Anforderungen für den Pflegegrad 3.
Die Barmer teilt diese Ansicht nicht und betont in Bezug auf die finanzielle Situation Strauchs abschließend: "Aufgrund von Erfahrungen wie dieser raten wir Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen stets, vor dem Abschluss von Verträgen mit Pflegediensten Kontakt mit der Pflegekasse aufzunehmen." Strauch helfen all diese Argumente von unterschiedlicher Seite bei ihrem Problem letztlich nicht, wie sie sagt: "Im Endeffekt bin ich pleite."