Bottrop.

Nur das Klavier (und eventuell noch die Orgel) decken die vielen Farben eines Orchesters ab. Welche Valeurs, Schattierungen und Klangraffinessen ein Steinway und die ausgewählten Komponisten bereithalten, machte die junge russische Pianistin Anna Vinnitskaya bei ihrem glanzvollen Festivaldebüt im ausverkauften Kammermusiksaal deutlich: Bei Werken von Franz Schubert, Johannes Brahms, Claude Debussy und Sergej Prokofjew hörte man orchestrale Eigenheiten und Zwischentöne. Ein grandioses Erlebnis mit der von Alfred Brendel geförderten Solistin, die seit etlichen Jahren in Hamburg lebt. Dort hat sie auch seit 2009 bereits eine Professur inne.

Siegerin bei zwei Wettbewerben

Sie kam mit der Empfehlung, zwei bedeutende internationale Klavierwettbewerbe gewonnen zu haben: den Concours Reine Elisabeth in Brüssel im Jahr 2007 und ein Jahr später den Bernstein-Award beim Schleswig-Holstein-Musikfestival.

Was sie auszeichnet: eine lyrische Inspiration, die bildreich Romantik heraufbeschwören kann (wie beim Andante in Schuberts Sonate Nr. 14 a-Moll, bei „Clair de lune“ in Debussys „Suite bergamasque“); eine dynamische Motorik, die mit höchster, auch mal hämmernder Virtuosität alle technischen Schwierigkeiten von den Tasten hinwegfegt, wie bei Prokofjews zweiter Sonate d-Moll oder beim Schubert-Finalsatz - und schließlich überzeugende pianistische Konzepte. Die Musik sprudelt wie aus einem nie versiegenden Brunnen ganz „natürlich“ heraus. Das galt für die beiden Brahms-Rhapsodien op. 79 und bei Debussys dahin perlender „Insel des Glücks“ („L’isle joyeuse“) im Besonderen.

Vom Publikum begeistert gefeiert

Und über allen Stücken dieses kontrastreichen Programms mit Schwerpunkten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert schweben diese vielen Farben – das Klavier wird in seinen Affekt- und Effekt-Möglichkeiten auf höchst delikate und zugleich unterhaltsame Weise ausgereizt. Es gibt bei Vinnitskaya keinen Moment der Langeweile oder der kühlenden Entspannung. Die Intensität des Vortrags geht direkt ins Herz und die Musikseele.

Bei der Brahms-Zugabe (op. 117) passierte dann noch das, was man als olympischen Funken in Erinnerung behält: Anna Vinnitskaya, eine große Entdeckung des Klavierfestivals Ruhr, spielt diese beseelte „kleine“ Melodie, als hätte der Himmel in dieser Minute die Erde geküsst. Das Schwebende, das Unausgesprochene, das Berührende, das scheinbar Einfache und Stille – besser kann man den „robusten“, norddeutschen Brahms nicht von den undankbaren Klischees der Musikrezeption befreien. Anna Vinnitskaya, die übrigens hochschwanger auftrat, wurde vom Bottroper Publikum begeistert gefeiert.

Auch Mentor Alfred Brendel saß im Publikum: Das Klavier-Festival widmete den Schülern des großen Pianisten eine eigene Reihe

Vor fünf Jahren gab Alfred Brendel sein Abschiedskonzert beim Klavier-Festival Ruhr. Damit zog sich einer der bedeutendsten Pianisten zumindest der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwar aus dem aktiven Bühnengeschehen zurück. Dass sich der in Nordmähren geborene Künstler (mit 12 Jahren siedelte er nach Österreich über), der inzwischen überwiegend in England lebt, aber damit aufs Altenteil zurückgezogen hätte, lässt sich nun nicht sagen. Als Mentor und Vortragender ist Brendel nach wie vor in Sachen Musik unterwegs.

Seit dem vergangenen Freitag war Brendel zu Gast in der Region. Das Klavier-Festival Ruhr hatte einer Anzahl von Ausnahmeschülern des Meisters in diesem Jahr eine eigene Reihe gewidmet: „Große Klavierschulen der Gegenwart: Der Mentor Alfred Brendel“.

Auch Anna Vinnitskaya, die jetzt im Kammerkonzertsaal einen umjubelten Solo-Abend gab, gehörte dazu. Und der Maestro war höchstpersonlich anwesend. Dass einmal eine Klavierschule mit seinem Namen in Verbindung gebracht würde, das hätte er sich im Leben nicht träumen lassen, wandte sich Brendel vor Konzertbeginn direkt ans Publikum. Lehrer? Er sehe seine Aufgabe eher darin, die Persönlichkeit der jungen Künstler zu unterstützen.

Die 29-jährige Anna Vinnitskaya, die selbst in Kürze bereits zum zweiten Mal Mutter wird, gehört ebenso dazu, wie beispielsweise Herbert Schuch oder der noch ganz junge Kit Armstrong, deren Festival-Auftritte Alfred Brendel in diesem Jahr ebenfalls mit Interesse verfolgte. DA