Bottrop. Ein ungewöhnlicher Ort für eine Lesung: In der Psychiatrischen Institutsambulanz von Valeara in Bottrop war Fatih Çevikkollu zu Gast.
Wenn ein preisgekrönter Kabarettist sein neues Buch vorstellt, noch dazu ein Buch, das es bereits auf die Bestsellerliste geschafft hat, dann herrscht die Erwartung, dass es ein fröhlicher Abend wird. Am Mittwochabend war Fatih Çevikkollu nach Bottrop gekommen in die psychiatrische Institutsambulanz der Valeara auf der Hochstraße.
Und spätestens als Dr. Ilker Kavuk von Valeara die rund 100 Zuschauer begrüßte, war klar: Der Abend wird interessant und vielschichtig, lustig aber wird er wahrscheinlich nicht. Ernster Hintergrund der Einladung: In den migrantischen Communities ist das Thema psychiatrische Behandlung immer noch tabuisiert. Viele Menschen erhalten deshalb nicht die Behandlung, die sie brauchen. Und in seinem Buch mit dem Titel „Kartonwand“ setzt sich Fatih Çevikkollu mit den Traumata der Arbeitsmigranten der frühen 60-er Jahre auseinander. Seine Geschichte beginnt mit dem Tod seiner Mutter und findet darin auch ihr Ende. Dazwischen geht es um unerfüllte Träume und Sehnsüchte und um die Erzählung von der Rückkehr „nach Hause“, in die Türkei. Ein Traum, den die Eltern sich und ihren Kindern immer wieder erzählten, weil sie da, wo sie lebten und arbeiteten, in Deutschland, in Köln, nicht hingehörten, weil sie nicht dazugehörten, weil sie hier, wenn überhaupt, nur als Arbeitskräfte gefragt waren.
„Warum entwickelte meine Mutter eine Psychose?“
Am Ende ihres Lebens war Fatih Çevikkollus Mutter psychisch krank und verbrachte ihre letzten Lebensjahre allein in der Türkei. „Warum entwickelte meine Mutter im Alter eine Psychose? Wie viel an ihrer Krankheit ist individuell, und wie sehr hängt sie mit der Situation zusammen, in der sie die jahrzehntelang befand?“ Das sind Fragen, die der Autor in seinem Buch aufwirft und analysiert.
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Dabei betont er, dass die Geschichte seiner Familie exemplarisch ist: „In fast jeder Familie der Arbeitsmigranten der 60-er Jahre gab es das Narrativ des Wir-werden-zurückkehren, und diese Rückkehr wurde auf eine bestimmte Art vorbereitet.“ Er beschreibt, wie besonders kostbare Dinge gesammelt und in Kartons verstaut wurden. Ein Toaster vielleicht, ein Entsafter, Kristallgläser oder wunderbares Spielzeug. Alles für später, alles für eine Rückkehr in ein wieder und wieder gelobtes Land.
Für das Leben in Deutschland dagegen war das Hässliche gut genug. Denn in Deutschland war nicht das wahre Leben, hier war eine Übergangssituation, die es auszuhalten galt. „Ich weiß, was es heißt, im Schatten der Mauer aufzuwachsen“, versichert Çevikkollu seinem Publikum. Dabei schmunzelt er, aber zugleich klingt darin auch eine weitere Botschaft an, die ihm wichtig ist: „Migration ist Teil der deutschen Geschichte“.
Während der Veranstaltung herrscht auf der der Bühne trotz des schweren Themas eine lockere Atmosphäre und immer wieder gibt Fatih Çevikkollu auch skurrile Episoden zum besten. Wie der 16-jährige Fatih zusammen mit allen bis dahin gesammelten Kartons zurück in die Türkei geschickt wurde, um alles für die dauerhafte Rückkehr der Familie vorzubereiten. Der Lkw brauche sechs Wochen statt drei Tage, und der gesamte Plan scheitert grandios.
Der Autor schildert seine Erfahrung spannend und durchaus amüsant, und doch wird die Not des 16-Jährigen dahinter spürbar, seine Scham, als er nach Köln zurückkehrt und sich eingesteht, dass der Traum von Paradies in der alten Heimat, endgültig ausgeträumt ist.
Eine ganze Generation wurde zu „Kofferkindern“
Fatih Çevikkollu erzählt mit emotionaler Dichte und zugleich mit dem Abstand des Autors, der ein Thema analytisch durchdringen. Das ermöglicht ihm einen Perspektivwechsel, schützt ihn davor, sich in die Idee individueller Schuld zu verstricken. Andererseits beschönigt er nichts, berichtet von den drakonischen Strafen, die sein Vater auch bei kleinsten Vergehen anwandte, schildert, wie eine ganze Generation zu Kofferkindern wurde, weil sie immer wieder zu den Großeltern geschickt wurden, weil für sie im Arbeitsalltag kein Platz war. Die Folge: Verlusterfahrungen, Bindungsabbrüche.
Wie sehr das Thema des Buches einlädt zur Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, wird deutlich, als gegen Ende des Abends das Publikum ins Gespräch einbezogen wird. Es sind viele Zuhörer mit internationaler Biografie gekommen, viele von ihnen Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Gesundheitswesen. Da hätte die Diskussion leicht in Fachsimpelei und kluge Statements ausarten könne. Aber die zahlreichen spontanen Wortmeldungen sind persönlich und authentisch.
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Am Ende steht ein Plädoyer für kultursensible Psychotherapie, für die Bildung multikultureller Teams, die Sprach- und Kulturmittler in seelischen Krisen sein können. Und das lebhafte Interesse zeigt: Fortsetzung erwünscht.