Bottrop-Kirchhellen. Vor 200 Jahren startete Preußen in Kirchhellen die große Landreform. Ziel: Westfalen vorm Verhungern retten. Die Folgen finden sich im Stadtplan.
Als auf dem Wiener Kongress 1815 Europa neu sortiert wurde, kam Kirchhellen zu Preußen. Knapp 3500 Einwohner hatte das Dorf damals, immerhin fast 1000 mehr als Bottrop. Wie man die Preußen kennt, haben sie erstmal Ordnung geschaffen und von Kirchhellen die erste richtige Karte gezeichnet, das Urkataster. Das war die Grundlage für eine umfassende Landreform, die in den anderen preußischen Provinzen schon Jahrzehnte zuvor stattgefunden hatte: Von 1822 bis 1836 wurden die „Kirchhellener Marken“ aufgeteilt. So entstand ein neuer Bauernstand, die später so stolzen „Kämper“
Rund 50 Bauernhöfe gab es am Ende des Mittelalters in Kirchhellen, schätzte einst der unvergessene Grafenwälder Lehrer und Naturschützer Karl Wessels. Das waren die Ländereien der Kirchhellener Adelshäuser wie Hackfurth, Wenkendiek, Repel, Brabeck oder Beck. Das waren die uralten Hofstellen wie Umberg oder Hof Jünger, der Oberhof der ehemaligen Burg Kirchhellen. Viel Land gehörte der Kirche. Und dann gab es noch die Kirchhellener Marken: Die waren Gemeindeland, meist karge Heide. Aber immerhin: Dort konnte jeder seine Ziegen und Schweine weiden lassen, Holz sammeln, Torf stechen.
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Das Gemeinschaftsprinzip der Marken stieß früh an Grenzen
Je mehr Menschen in Kirchhellen lebten, desto schlechter funktionierte das Prinzip der „Gemeinheiten“. Die Folge: „Wo immer man kultivierbaren Boden fand, wurden ehemals gemeinschaftlich genutzten Ländereien privatisiert. Diese Privatisierungen fanden das gesamte Mittelalter und die frühe Neuzeit hindurch statt“, schreibt Stefan Brakensiek in seiner Untersuchung über „Marken und Gemeinheiten in Westfalen und Niedersachsen“.
„Eine solche neukultivierte Ackerparzelle nannte man Kamp. Hingestreut wie Inseln in die See der gemeinschaftlichen Wälder, Heiden und Moore fand man allenthalben zahlreiche Kämpe, die individuell bewirtschaftet wurden. Das vollbäuerliche Segment der Landbevölkerung wurde unterschichtet von einer wachsenden Zahl von Köttern, die ihren Lebensunterhalt durch eine Mischung von Gartenwirtschaft, Viehhaltung, Leineweberei und Tagelöhnerei bestritten.“
Ein frühes Beispiel: der Vikars Kamp
Ein Beispiel für einen Kamp aus dem Mittelalter ist der Vikars Kamp in Feldhausen. 1473 waren die Herren auf Haus Beck so reich geworden, dass sie in Feldhausen eine Kapelle bauten und eine Vikars- sowie eine Küsterstelle stifteten. Vikar wie Küster bekamen kein Gehalt, sondern Land, um sich zu ernähren: Vikars Kamp und Küsters Kamp eben. Das Land verpachteten sie später weiter an Feldhausener, die dort Gärten und kleine Äcker bewirtschafteten. Später wurde aus dem Vikars Kamp eine Siedlung, als die Kirche ihn als Bauland verkaufte oder verpachtete.
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Ein Döneken am Rand, in Kirchhellen sagt man „Döhnke“: Aus dem Küsters Kamp wurde 1893 der heutige Friedhof Feldhausen. Mit einer Besonderheit, über die Heimatforscher Johannes Rottmann berichtet: „In alter Zeit durfte der Küster auf dem Friedhof seine Kuh weiden lassen. Man ließ buchstäblich über die Gräber Gras wachsen.“
Die Not war groß in Westfalen nach dem Wiener Kongress
Als dann die Preußen nach Kirchhellen kamen, haben sie das Prinzip der Kämpe im ganz großem Stil aufgezogen. Denn die Not war groß. Die marodierenden Söldner hatten in den napoleonischen Kriegen ganze Landstriche verwüstet; Kirchhellen etwa musste im „russischen Winter“ 1813 ein Kosakenregiment erdulden. Und überhaupt: Der in Jahrhunderten entstandene landwirtschaftliche Flickenteppich konnte die wachsende Bevölkerung nicht mehr ernähren.
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„Spätestens nach dem Hungerwinter 1816/17, der ganze Landstriche entvölkerte und verelenden ließ, war offenkundig, dass die westfälischen Besitz- und Herrschaftsverhältnisse über den bäuerlichen Grund und Boden eine effektive Landwirtschaft und ausreichende Ernten systematisch verhinderten“, heißt es in einem Rückblick der Bezirksregierung Münster auf „200 Jahre Agrarordnungsverwaltung in NRW“. Also machte sich eine „Generalkommission“ in Münster ans Werk und teilte die „gemeinen Marken“ in Kirchhellen auf. Felder wurden privatisiert, neu zugeschnitten und zusammengelegt („verkoppelt“).
Ergebnis aus Sicht der Preußen: „Die landwirtschaftlichen Erträge stiegen, der befürchtete Aufstieg weniger Großgrundbesitzer blieb weitgehend aus.“ Dieser zweite Satz ist weitgehend gelogen, zumindest was Kirchhellen betrifft.
Großgrundbesitzer: Die adeligen Herren auf Schloss Beck
Zwar haben die vielen neuen Kämpe den neuen Landbesitzern, den „Kämpern“, die Existenz gesichert. Ihren Schnitt bei der Landreform machten aber auch die adligen Herren auf Schloss Beck, die damals durch Einheirat gerade von Wenge hießen. 1783 hatten sie mit Genehmigung der Abtei Werden schon die Adelsgüter Brabeck und Hackfurth aufgekauft, 1852 kam noch das Gut Vettenbocholt dazu.
Das „Hackforterfeld“ und das „Hackforter Kamp“ holte sich die Familie Hackfurth 1839 vor Gericht zwar zurück. Doch die Wenges und später die Wolff-Metternichs blieben die größten Landbesitzer nicht nur in Kirchhellen. Heimatforscher Rottmann hat in den alten Urkunden geforscht und zusammengerechnet: „Zum Hause Beck gehörten 1890 1029 Hektar“; fast die Hälfte davon in Kirchhellen, der Rest in Gladbeck, Buer, Bottrop, Dorsten und Wattenscheid. Rottmann: „Es wird erzählt, Paul Graf Wolff Metternich solle gesagt haben, er könne von Bottrop bis nach Feldhausen über eigenen Grund gehen.“
Die Aufteilung der Kirchhellener Marken war die größte, aber nicht die letzte Landreform. Eine weitere folgte 1919: Geprägt durch die Hungersnot nach dem Ersten Weltkrieg war es wieder das vordringlichste Ziel, durch wirtschaftliche Zusammenlegung „dem vaterländischen Grund und Boden die höchsten Erträge abzuringen“, bilanziert die Bezirksregierung.
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„Hier gibt es noch etwas zu schützen“
In Kirchhellen hat die Kampagne „Ödland zu Brotland“ nach dem Ersten Weltkrieg übrigens eine Gegenbewegung ausgelöst. 1925 war der Grafenwälder Lehrer Wessels Mitgründer und erster Geschäftsführer der Kirchhellener „Naturdenkmalspflege“. Sein Ziel: Schutz der Kirchheller Heide vor weiterer „Verkoppelung“. Begründung: „Haben wir doch in Kirchhellen eine Landschaft, von der man sagen kann: Hier gibt es noch etwas zu schützen.“ Angesiedelt wurde der Naturschutz damals unter dem Dach des Heimatvereins.
Landwirtschaftliche Flächen besser zu nutzen, war auch Ziel des Flurbereinigungsgesetzes von 1953: Angesichts der vielen Flüchtlinge lautete die „drängende Aufgabe, die Ernährung zu sichern und gleichzeitig die Flüchtlinge einzugliedern“. Und wie am Vikars Kamp in Feldhausen wurde aus dem „Ödland“ mit immer weiter wachsender Bevölkerung erst „Brotland“ und dann Bauland. Und weil bei der Benennung von neuen Straßen und Siedlungen die Kirchhellener und später auch die Bottroper oft die alten Flurnamen nutzen: Deshalb enden im Dorf heute so viele Straßen auf Kamp.
Auf den Spuren der alten „Kämper“
Schultenkamp, Schlagkamp, Gertskamp, Ottenkamp: Die Erinnerung an die privatisierten ehemaligen Marken findet sich überall in den Straßennamen von Kirchhellen. Gleich in drei Bänden der Schriftenreihe des Heimatvereins haben sich die Heimatforscher Johannes Rottmann und Hans Büning auf die Spuren der alten Namen gemacht.Auch die Straße „Auf der Kämpe“ durchs Wiesental nimmt Bezug auf die Privatisierung. Das Wort Kämpe, so Rottmann, „bezeichnet immer noch bebaute Ländereien zum Unterschied von der Kirchheller Mark, die als Gemeineigentum weitgehend unbebaut blieb. In Kirchhellen nennen sich die Bewohner dieser Flur stolz Kämper mit einer eigenen Hymne, dem Kämper-Lied“.