Bottrop. . 2020 endet das Pilotprojekt in Bottrop. Ziel: Den Ausstoß von Kohlendioxid halbieren. Macher Drescher ist zuversichtlich: „Wir knacken das Ziel.“
Man hört ja gar nichts mehr von Innovation City. Was daran liegen könnte, dass man gar nichts sieht: Denn CO2 ist unsichtbar – und die Hälfte dieses Kohlenstoffdioxid-Aufkommens ist es folglich erst recht. Das ist das Klimaziel und Klima ist ja dieser Tage, nicht zuletzt dank einer 16-jährigen Schwedin und schwarmartigen Freitags-für-die-Zukunft-Jungdemonstranten global in aller Munde, immerhin. Grund genug, nachzufragen: Was macht eigentlich das Vorzeige-Weltrettungsprojekt aus Bottrop? 2010 gestartet, wird im Oktober nächsten Jahres Bilanz gezogen. Zur Halbzeit – 2015 vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie erstellt – lautete die Prognose bereits: Die CO2-Abgase würden um 37,4 Prozent reduziert. Schon das wären allein im Pilotgebiet gut 100.000 Tonnen Treibhausgas weniger als beim Start – deutschlandweit einzigartig.
Und im Gesamt-Saldo?
„Ich bin überzeugt davon, dass wir unser Ziel in Bottrop Ende 2020 erreichen: die Halbierung der CO2-Emissionen“, sagt Burkhard Drescher (67), Geschäftsführer des Innovation City Management, auf Anfrage unserer Digitalen Sonntagszeitung. „Wir knacken das!“ Die Devise lautet nach 150 Jahren Pütt mit dem Aus von Prosper Haniel ausgangs des letzten Jahres: von der Kohlestadt zur Klimastadt. Drescher: „Wenn eine Stadt mit Energie umgehen kann, dann Bottrop.“
Die Herausforderung: keine Muster-Ökosiedlung auf der grünen Wiese zu errichten, sondern im Bestand der alten Zechenhäuser an Dämmung und dergleichen zu arbeiten. Kein Reißbrett, ein Stadtquartier mit echten Menschen. 3400 Bottroper und somit jeder Dritte aller Eigentümer haben die kostenlosen Energieberatungen und die Aussicht auf finanzielle Förderung in Anspruch genommen. Aus alt mach‘ effizient! Stagniert die Modernisierungsrate bundesweit unter einem Prozent, liegt sie in der Revier-Stadt bei über drei Prozent. „Die Energiewende in Deutschland braucht einen pragmatischen und bürgernahen Ansatz“, so Drescher.
Wir haben pragmatische Bürger nah besucht: Familie Wilke und Familie Lachnicht wollen noch dieses Jahr in ihre Gutes-Gewissen-Gebäude einziehen.
Familie Lachnicht und das Projekt Weihnachtsbaum im Eigenheim
Bei Familie Lachnicht geht Vater Jan (40), ein Berufs-Kolleg-Lehrer, gerne mit gutem Beispiel voran: „Ich fahre ausschließlich mit dem Fahrrad.“ Die Kinder Anna (11) und Johannes (9), darauf achtet auch die Mutter, Erzieherin Nina (41), sollen „das Umweltbewusstsein schon im Kleinen leben“.
Als die Großeltern das Haus in den Fünfziger Jahren erbaut hatten, war CO2 noch kein Thema. Der Opa malochte als Bergmann auf Prosper, Klein-Jan wuchs quasi in dem Haus auf, das er schließlich erben – und kernsanieren sollte. Jedes Rohr, jede Leitung, alles neu! Das Dach – hier wird Tochter Anna in den Spitzboden einziehen – komplett gedeckt und gedämmt, die alten Radiatoren weichen einer Fußbodenheizung, sogar die Grundrisse wurden verändert...
Einmal alles, bitte! So viel es geht macht Jan Lachnicht selbst: „Natürlich ist da immer die Angst vor einer ewigen Baustelle. Aber es kann nur funktionieren, wenn wir es richtig machen und nicht bloß drei Pfannen austauschen.“ Dieses Ziel (neben 15.000 Euro Förderung) motiviert: Der Weihnachtsbaum soll schon im fertigen Eigenheim stehen bitte.
Familie Wilke lässt keinen Stein auf dem anderen
Ein 100 Jahre altes WC mit plüschroter Klosett-Umpuschelung, Gläsern mit eingemachten Bohnen und Aufgesetztem, drei verrostete Fahrräder, Fußballsammelalben aus den Sechzigern, die bei Ebay Euros einbrachten – und jede Menge Kohle. So fanden die Wilkes nach fünf Jahren Leerstand den Keller der auch ansonsten komplett möblierten Zechenhaus-Doppelhälfte vor. „Als wäre die alte Dame einfach bloß kurz zum Spazieren gegangen“, erinnert sich Vater Sascha (46) an den „Neu“-Erwerb der Immobilie, Baujahr 1906.
Die Fassade wurde Charme-halber bloß gesandstrahlt, vom Rest auf dem 320-Quadratmeter-Grundstück sollte kein Stein auf dem anderen bleiben. „Zwischendurch haben wir uns schon ordentlich die Haare gerauft, um den Spagat mit dem Beruf hinzukriegen – aber nach den Sommerferien soll alles fertig sein.“ Er ist selbstständig, Ehefrau Manuela (41) arbeitet in der Krankenhaus-Verwaltung, beide möchten das grüne Gefühl an Tochter Hannah (13) und Sohn Henk (8) weitergeben. Mama Manuela: „Sie versuchen, weniger Plastik zu verwenden. Ihnen tun die Tiere leid.“
Erfahrungen aus Bottrop sollen weitergegeben werden
„Roll out“ bedeutet, die Erfahrungen aus Bottrop an 20 Quartiere in 17 Ruhrgebietsstädte von Wesel bis Hamm weiterzugeben. Macher Drescher: „Alle Quartiere zusammengenommen haben wir in unseren Konzepten eine 58 km² Fläche mit über 200.000 Einwohnern und fast 40.000 Gebäuden untersucht. Was haben wir herausgefunden? Dass im Gebäudebereich unglaubliches Photovoltaik-Potenzial schlummert. Man könnte weit über eine Million Megawattstunden pro Jahr aus der Sonnenenergie ziehen – wollten wir dies mit Braunkohle erreichen, müssten wir 474.000 Tonnen davon verstromen. Aber auch beim Heizen könnte man jährlich 575.000 Megawattstunden einsparen – das sind zum Beispiel 270.000 Ölfässer. Mit dem eingesparten Strom ließen sich 123.000 Kühlschränke betreiben. Kurzum: Unsere Analysen und Vorschläge zeigen, wie viel Klimapotenzial im Ruhrgebiet steckt.“ Auch außerhalb des Ex-Kohlenpotts: Denn drei von vier Wohngebäuden in Deutschland sind älter als 30 Jahre und somit Sanierungsfälle…
Dieser Beitrag ist als Teil unserer Digitalen Sonntagszeitung erschienen: