Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938: Unter dem Begriff (Reichs-) „Kristallnacht“ ist sie weltweit bekannt. Er beschreibt das, was in jener Nacht geschah recht treffend, auch wenn manche hierfür lieber den Ausdruck „Pogromnacht“ verwenden, ein eher abstrakter, wissenschaftlicher Begriff. Doch eigentlich erfassen beide das ungeheure Geschehen nur unzureichend. Die Ausschreitungen in jener Nacht bildeten einen vorläufigen Höhepunkt der Angriffe auf die Juden in Nazi- Deutschland.
Stadt lud einstige Opfer mehrfach ein
In dieser Nacht starben während und unmittelbar als Folge der Exzesse über 1300 Menschen, mindestens 1400 - also fast die Hälfte - aller Synagogen und Gebetshäuser in Deutschland und auch in Österreich wurden komplett zerstört bzw. stark beschädigt. Tausende jüdischer Geschäfte wurden verwüstet, Wohnungen, gestürmt, ihre Bewohner misshandelt und aus den Häusern gejagt. Viele von ihnen nahm die Polizei in so genannte „Schutzhaft“. Fenster und Einrichtungen von Synagogen, Geschäften, und Privathäusern wurden zerschlagen.
78 Jahre sind seither vergangen. Zeitzeugen, die die furchtbaren Geschehnisse bewusst miterlebt haben, gibt nur noch wenige. Sie haben bestenfalls schriftliche Erinnerungen hinterlassen.
Es ist wichtig, dass gerade junge Menschen die Ereignisse nicht nur in den Geschichtsbüchern nachlesen können. Geschichte sollte auch emotional erfahrbar sein, lebendige Geschichte sein. Daher ist es so wertvoll, dass sich im Bottroper Stadtarchiv Audio-Aufnahmen von ehemaligen jüdischen Mitbürgern befinden, die in den 30er Jahren als Kinder und Jugendliche hier gelebt haben. Sie konnten fliehen und Verfolgung, Deportation und drohender Ermordung entgehen, während viele ihrer Angehörigen den Tod fanden. Seit Ende der achtziger Jahre wurden sie wiederholt von der Stadt eingeladen. Begegnungen in der Stadt und mit den Menschen, die für alle sehr bewegend waren. Alle erzählten ausführlich ihre Lebensgeschichten, die für die Nachwelt gespeichert wurden.
Erinnerungen berühren immer noch
Besonders eindrücklich berichtete Judith Braunthal, die als Jenny Kleinberger 1923 in Bottrop geboren wurde und mit ihrer Familie im Haus am Pferdemarkt 7 aufgewachsen ist, von ihren Erlebnissen während der „Kristallnacht“.
Obgleich so lange Zeit vergangen war, was und wie sie erzählte, lassen jeden denken, es sei erst gestern gewesen. Man spürt beim Zuhören deutlich, wie schwer es ihr fällt, darüber zu sprechen. Sie erinnerte sich daran, wie eine Horde SA-Leute am Abend des 9. November 1938 die Wohnung stürmte, auf die Familie einprügelte und aus dem Haus jagte.
Jenny und ihre Eltern landeten schließlich, barfuß nur in Nachthemd und Pyjama bekleidet, im Bottroper Gefängnis. Niemand half, als sie am nächsten Tag die Mutter quer durch die Innenstadt zurück in ihre Wohnung schleppte.
Jeder, der das Interview hört, ist fassungslos. Wie konnte so etwas (auch) in Bottrop passieren? Das fragt man sich auch, wenn man die Erlebnisse von Max Tillinger hört, der mit seiner Familie ebenfalls am Pferdemarkt lebte. „Tillinger, aufstehen! Man tötet alle Juden“, nach diesen Sätzen floh die Familie im letzten Moment aus dem Haus, begegnete im Treppenhaus noch SA-Mitgliedern, die sie glücklicherweise aber nicht erkannten.
Inzwischen wurden die Aufnahmen digitalisiert, denn die ursprünglichen Kassetten haben keine lange Lebensdauer. Doch auch für die Digitalisate wird sich eine andere Lösung finden müssen, um die Geschichten für die Zukunft sicher zu konservieren.
Es sind nur wenige Unterlagen, die als Primärquellen aus der NS-Zeit stammen und direkte Einblicke in die Geschehnisse in der „Kristallnacht“ in Bottrop geben, einige wenige Aufzeichnungen in Polizeiakten, Berichte in Tageszeitungen, die allerdings nicht objektiv berichteten und dann eben die Interviews.
Die Unterlagen werden regelmäßig im Schulunterricht zum Thema „Nationalsozialismus“ im Stadtarchiv oder auch bei Vorträgen für Erwachsene eingesetzt. Auch wenn es nur sehr kleine Fenster in die Vergangenheit sind, so sie sind doch bedrückend aussagekräftig.