Zart und gebrechlich wirkt Rosa Pollak, als sie die hohe Stufe herabsteigt, die zum alten jüdischen Friedhof führt. Der Wind pfeift durch den Zaun, der seit einiger Zeit die alte Mauer ersetzt, die offensichtlich zu brüchig war, um sie zu reparieren. So wirken die wenigen Grabsteine jüdischer Mitbürger so ungeschützt, wie einige von ihnen auch ihren letzten Lebensabschnitt verbringen mussten, bevor sie am Rande des Westfriedhofs ihre letzte Ruhe fanden.
Rosa Pollak (87) kommt mit ihrem Sohn François aus Antwerpen. Sie besucht das Grab ihrer Freundin Blanka Pollak - eine zufällige Namensgleichheit - , mit der sie 1944 mit etwa 1500 anderen Jüdinnen als Zwangsarbeiterin aus dem Konzentrationslager Auschwitz nach Gelsenkirchen abkommandiert worden war. Dort sollen sie im Hydrierwerk der Gelsenberg AG schuften und das Nazi-Regime beim „Endkampf“ des furchtbarsten Krieges unterstützen, den Europa bis dahin gesehen hat.
Rosa Pollak kommt nicht allein - ebenso wenig, wie sie in ihren dunkelsten Stunden im Lager, als Zwangsarbeiterin und vor allem nach dem Luftangriff am 11. September auf das Werk in Gelsenkirchen nicht ganz allein war. Mit ihr kommt Ortrud Kathol-Bertram, der Tochter von Dr. Rudolf Bertram, jenes Arztes, dem Rosa Pollak 1944 ihr Leben verdankt. Der damalige Chefarzt des St. Josef-Hospitals in Horst behandelt einige der schwerverletzten ungarischen Jüdinnen unter Lebensgefahr im katholischen Krankenhaus und sorgt dafür, dass sie nach weiteren Luftangriffen von Horst ins Bottroper Marienhospital verlegt werden - auch Rosa Pollak. Dafür erhielt Bertram posthum die Auszeichnung „Gerechter unter den Völkern“ und einen Platz in der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel.
„Zu Lebzeiten wollte er nicht geehrt werden, er hat sich immer geweigert“, sagt seine Tochter. Und: „Er hat einfach nur geholfen, bei ihm hatte ich keine Angst“, sagt Rosa Pollak. Das ermutigt sie, 1954 das erste Mal nach Kriegsende wieder nach Deutschland zu kommen. Sie wollte sich von Dr. Bertram operieren lassen - immer noch stecken Bombensplitter in ihrem Körper, denn die Zwangsarbeiter durften ja nicht in die Luftschutzkeller. Wieder ins Land der Verfolger? „Ja, ich hatte Angst und Freude zugleich. Denn ich konnte ja den Arzt wiedersehen, der uns gerettet hat“, erinnert sich die alte Dame, die seither immer den Kontakt zu Familie Bertram gehalten hat.
1999 besucht sie schon einmal den jüdischen Friedhof. Damals lässt die Schwester der verstorbenen Blanka Pollak, die erst kurz zuvor von deren Schicksal gehört hat, einen Grabstein aufstellen. Auch andere Zwangsarbeiterinnen und der kleine, erst 35 Tage alte Nikolaus Berkowitsch, der im Gelsenkirchener Lager geboren wird, sind dort begraben. Rosa Pollak steht in stummem Gebet auf dem kleinen Friedhof. Alle, auch Oberbürgermeister und Kämmerer, legen kleine Kiesel auf die Grabsteine. Sie stehen für Gebet und Erinnerung - an diesem kalten Holocaust-Gedenktag.