Bottrop. Auch in diesem Jahr erinnert das Stadtarchiv am 9. November mit einer Veranstaltung an die so genannte „Kristallnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938, in der im gesamten Deutschen Reich Synagogen zerstört wurden, Geschäfte und Wohnungen jüdischer Einwohner demoliert und Juden misshandelt wurden.Bei Gedenkveranstaltung spricht Judith Neuwald-Tasbach, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen-Bottrop-Gladbeck, auch über ihre eigenen Familiengeschichte.

Als im Sommer Unbekannte einen Gullydeckel in die neue Gelsenkirchener Synagoge schleuderten, beschlich Judith Neuwald-Tasbach ein ungutes Gefühl. Auch als der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, zu der auch die Bottroper jüdischen Glaubens gehören, von kleinen muslimischen Jungen auf der Straße „Jude, Jude“ hinterher gerufen wurde, traf sie das tief.

„Spätestens da, wenn ,Jude’ wieder zum Schimpfwort wird, habe ich mich gefragt, ob Vaters Entscheidung, nach Nazizeit, Krieg und Schoah, die er überlebte, in Gelsenkirchen zu bleiben, richtig war,“ sagt die 54-Jährige. Am Sonntag, dem Gedenktag an die „Reichspogromnacht“, in der am 9. November 1938 in ganz Deutschland jüdische Mitbürger verfolgt und deren Wohnungen und Geschäfte geplündert und zerstört wurden, ist Judith Neuwald-Tasbach Gastrednerin im Kammerkonzertsaal.

Eine Familiengeschichte des Reviers

Denn ihre Familiengeschichte steht nicht nur exemplarisch für das Schicksal, das Millionen Juden damals in Europa widerfuhr. Die Geschichte ihrer Familie ist eng mit der Region verbunden. „Vaters Familie hatte in Gelsenkirchen ein bekanntes Bettengeschäft, das er nach dem Krieg nur zwei Häuser weiter wieder eröffnete.“ Was die Gemeindevorsitzende und studierte Wirtschaftswissenschaftlerin ruhig, zuweilen lächelnd erzählt, klingt fast wie ein Wunder. Denn von den 26 Familienangehörigen aus Gelsenkirchen, die während des Krieges deportiert wurden, haben nur ihr Vater und einer seiner Brüder Auschwitz überlebt.

„Vaters erste Frau wurde in Riga ermordet, meine Mutter, seine zweite Ehefrau, stammte aus Siebenbürgen, aus dem gleichen Ort wie der bekannte Publizist Elie Wiesel, und musste in Gelsenkirchen Zwangsarbeit leisten. Dort überlebte sie die Verletzungen durch einen Bombenangriff - Juden und Zwangsarbeiter durften ja nicht in die Bunker -, weil sie ein Arzt im Horster Krankenhaus trotzdem behandelte.“ Vielleicht waren es Gesten wie diese, die in schwerer Zeit die Neuwalds nicht ganz verzweifeln ließen. Aber auch der Wille zu zeigen, dass Hitler am Ende nicht Recht behalten und Deutschland „judenrein“ sein sollte, mögen Kurt Neuwald zum Bleiben bewogen haben.

Heute hängt in Judith Neuwald-Tasbachs ein großes Porträt ihres Vaters. Der 1906 Geborene war nicht nur Mitbegründer des Zentralrats der Juden in Deutschland, sondern wurde später auch zum Ehrenbürger Gelsenkirchens ernannt, wo schon zwei Generstionen Neuwalds vor ihm lebten.

Deutschland zu verlassen, das ist für Judith Neuwald-Tasbach keine Option - auch wenn Steine fliegen, Synagogen beschützt werden müssen und in manchen Kreisen ,Jude’ wieder ein Schimpfwort ist. „Wie für meinen Vater ist Deutschland, das Ruhrgebiet, auch wenn ich in Recklinghausen lebe, meine Heimat. Die Kultur, die Sprache sind es, in der wir leben. Und im Gegensatz zu 1938 bekamen wir nach dem Anschlag so viel Zuspruch und Solidarität der Menschen aus Gelsenkirchen und von überall her, dass es mich überwältigte“, sagt die Vorsitzende, die für die weltlichen Belange und die Organisation der jüdischen Gemeinde der drei Revier-Städte zuständig ist.

In Bottrop gibt es heute nur wenig Erinnerungsorte an die jüdische Geschichte

Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernahmen, lebten in Bottrop etwas mehr als 200 jüdische Mitbürger. Die meisten von ihnen wurden bis 1945 ermordet. Am Rande des Westfriedhofs gibt es noch einen kleinen jüdischen Friedhof.

An das frühere jüdische Bethaus erinnerte bis vor einigen Jahren in der Tourneaustraße ein Gedenktafel. Nachdem die Eigentümergemeinschaft des dortigen Neubaus sich weigerte, die städtisch finanzierte Tafel wieder anbringen zu lassen, erhält sie nun einen neuen Standort und eine von einem Bottroper Künstler neugestaltete Steinfassung auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Heute leben zehn Bürger jüdischen Glaubens in Bottrop.

Die vom Stadtarchiv organisierte Gedenkveranstaltung mit Judith Neuwald-Tasbach, den Historikern Georg Möllers und Jürgen Pohl sowie Musikerin Anne Krickeberg am Stahlcello, beginnt am Sonntag, 9. November um 11 Uhr im Kammerkonzertsaal an der Böckenhoffstraße.