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Sabine Schöll wühlt sich durch Excel-Dateien. Die 40-Jährige arbeitet seit Anfang des Monats am Empfang von „Call & Sales Manufaktur“ auf einem Gebiet, das ihr bislang gänzlich neu war. „Ich fange bei Null an, bin aber bereit, alles zu lernen.“ Es ist für sie, die Menschen ohne Rollstuhl „Fußgänger“ nennt, der erste Arbeitsplatz überhaupt.

Die lebhafte, wissenshungrige Frau ist seit ihrer jüngsten Kindheit auf den Rolli angewiesen, was ihr – wie vielen anderen Menschen mit Behinderungen – die freie Berufswahl arg erschwert. „Natürlich sagt niemand bei Absagen die Wahrheit; meist wird behauptet, der Job sei schon vergeben.“

Ihr Abitur musste sie an einer Erwachsenenschule auf einem schwäbischen Dorf nahe Stuttgart nachholen; „die vorhandenen Gymnasien waren nicht behindertengerecht, und ich musste lange suchen.“ Diese Hürden nahm sie in Kauf, um zu studieren: „Alle sagten: Du kommst nie an die Uni. Denen wollte ich es zeigen.“

Ihre Fächer waren Anglistik, Skandinavistik und allgemeine vergleichende Literaturwissenschaften, die sie an der RUB studierte, weil die Uni als behindertenfreundlicher gilt als andere; „stimmt aber nicht so ganz“. Ein Gastsemester studierte sie auch in Irland, und davon schwärmt sie noch heute: „Alle Kneipen, Restaurants dort sind rollstuhlgerecht.“ Ein Beinbruch aber zwang sie, das Studium abzubrechen. „Seither suchte ich Arbeit; zunächst natürlich auf meinem Feld Sprachen.“ Gefunden hat sie jahrelang aber nichts, hielt sich mit Übersetzungen in Heimarbeit finanziell über Wasser.

Als das Bochumer Jobcenter erfuhr, dass sich „Call & Sales“ im Juli im Stadtwerkehaus niederlassen werde und deren Chef, Alfons Bromkamp, bei der Rekrutierung von Personal auch Menschen mit Behinderung im Blick hat („Inklusion“), wurde Sabine Schölls Sachbearbeiter hellhörig. „Erst war ich skeptisch, zumal Callcenter keinen allzu guten Ruf genießen“, räumt die 40-Jährige ein. Doch ihre Bedenken schwanden, zumal sie nicht an der Telefonie sitzen muss – „das läge mir auch nicht“. Die Neue versteht sich mit den Kollegen gut.

„Es ist zwar gänzlich anders als alles, was ich gelernt habe, doch ich fühle mich wohl.“ Vorteil für sie: Während eines Praktikums hat Sabine Schöll an der Uni in einer Serviceabteilung für Behinderte gearbeitet, so dass ihr Schreibtischtätigkeit nicht fremd ist.

Zur Arbeit und zurück kommt sie per Taxi. „Ich wohne nahe der Hustadt. Wenn ich Bus und Bahn nutzen wollte, bräuchte ich Hilfe.“ Vor allem die Campuslinie U35 habe einen Abstand zwischen Bahnsteig und Waggon, den die Rollifahrerin nicht überwinden kann.

Sabine Schöll wohnt allein („ich habe eine Assistenz“), hat nach wie vor eine Studentenwohnung. Die ist zwar nicht ideal – Fenster sind zu hoch, es gibt eine Badewanne statt Dusche – aber bezahlbar. Für behindertengerechte Standards verlangen Investoren mehr Miete. „Außerdem sind das zumeist Seniorenwohnungen; und nur unter Rentnern mag ich nicht leben.“ Deshalb hat sie sich als Mieterin für das dritte Mehrgenerationenprojekt von Nawobo beworben.

Sie geht gern aus, doch nach ein, zwei Bieren ist der Abend beendet: „Ich kenne keine Kneipe im Bermuda-Dreieck, die eine Toilette für Rollstuhlfahrer hat.“

Jobcenter betreut 2700 Hartz-IV-Empfänger mit Behinderungen

Die Agentur für Arbeit richtete für Sabine Schöll den neuen Arbeitsplatz bei Call & Sales ein, das Jobcenter zahlt die Förderung. Dieser sogenannte Eingliederungszuschuss beträgt 70 Prozent des Gehalts im ersten, 60 im zweiten Jahr, danach läuft er aus. Auf der anderen Seite müssen Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitern mindestens fünf Prozent ihrer Jobs mit behinderten Menschen besetzen. Andernfalls ist eine Ausgleichsabgabe fällig, die pro Stelle bis zu 290 Euro betragen kann.

Doch noch immer gibt’s Unternehmen, die sich lieber freikaufen, statt die gesetzliche Quote zu erfüllen. Geschäftsführer Alfons Bromkamp: „Es gibt Vorteile bei vielen Arbeitgebern: Behinderte seien häufig krank, wenig belastbar und man werde sie nicht los.“ Er selbst aber sieht Vorteile in der Inklusion, beschäftigt an den Standorten Görlitz und Mülheim seit Jahren Rollifahrer und Epileptiker und bildet sie auch aus: „Sie sind gefühlt stärker dem Unternehmen verpflichtet und überdurchschnittlich motiviert.“ Und mit einer Aufgabe steigt ihr Selbstwertgefühl.

Bromkamp hegt großes Interesse daran, Sabine Schöll, die noch in der Probezeit ist, zum festen Bestand seines Betriebs zu machen. „Nicht, weil ich mich für einen Gutmenschen halte, sondern aus betriebswirtschaftlichem Interesse.“ Zuzeit sind an der Massenbergstraße 22 Mitarbeiter beschäftigt. „Die Call-Center-Branche wächst stark. Wir streben einen Stamm von 50 Leuten an.“ Und zu denen sollen in jedem Fall Menschen mit Behinderungen gehören. Erst gestern hat sich ein junger Mann beworben, der bislang wegen seines Handicaps nur Ablehnungen bekam.

Guido Sadrinna, Teamleiter Reha/Schwerbehinderte im Jobcenter, bemüht sich, für 2700 Hartz-IV-Empfänger mit Behinderungen Jobs zu finden. „Wir suchen ständig nach Nischen.“