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Schon ab 11 Uhr hat der Marktplatz Sonne. Hier soll das Herz des Dorfes schlagen, das derzeit mitten in der Stadt entsteht: die Claudius-Höfe, eine kleine Gemeinschaft als neue Wohnform, in der gearbeitet und gelebt wird.

Verschiedenfarbige Fassaden, eine Pizzeria und ein Café beleben den Marktplatz, der eingerahmt ist vom Wohnungsbau. Der Italiener Da Vita wird von der Hattinger Straße umziehen, und das Café betreiben junge Menschen mit Behinderung. Um den Marktplatz ordnen sich das Gasthaus, ein Ladengeschäft und der Gemeindesaal. Für eine Herberge, einen Sozialdienst und weitere Dienstleister wurde ebenfalls Raum geschaffen. Ganz wichtig: Gemeinschaftssaal und -raum als Hort der Kommunikation. Dabei sollen diese Einrichtungen keineswegs den Gang in die Einkaufsstraßen und Restaurants der Stadt ersetzen. Denn es handelt sich bei den Claudius-Höfen nicht um eine autarke, sondern um eine urban verankerte Wohnsiedlung.

Projekt spiegelt den Ehrgeiz seiner Ideengeber

Die Claudius-Höfe sind ein Projekt, das den Ehrgeiz seiner Ideengeber spiegelt, die komplette Demografie eines Dorfes abzubilden – ohne Landflucht. Also Rentner, Singles, Familien mit Kindern, Studenten und Menschen mit Behinderungen. „Die Vorgabe lautet: 200 Bewohner, darunter 20 bis 30 mit Behinderung“, sagt Willi Gründer, Vorsitzender des Matthias-Claudius-Sozialwerks.

Alles begann 2004, als sich Eltern behinderter Jugendlicher sorgten, wo und wie ihre Kinder später wohnen könnten. Die Heimunterbringung wollte keiner; stattdessen eine Wohngemeinschaft mit Vielfalt. „So gingen wir früh auf die Suche nach einem Grundstück“, so Willi Gründer, Maßgabe war, es sollte stadtnah und ausreichend groß sein. 8000 Quadratmeter waren mindestens erforderlich“. Drei Jahre dauerte die Suche, bis ein holländischer Investor von seinen Plänen für das ehemalige USB-Grundstück zwischen Mauritius- und Düppelstraße abrückte. „Das 10 000 Quadratmeter große Gelände ist ideal für unsere Zwecke mit zentraler Lage.“

20 Prozent Eigenkapital: zwei Stifter gaben 4,5 Mio Euro

Knapp zweihundert Personen benötigen zum Wohnen etwa siebentausend Quadratmeter, und die geplanten Gemeinschafts- und Gewerbeflächen weitere zweitausend Quadratmeter. Die Gesamtfläche würde also fast zehntausend Quadratmeter betragen müssen. „Die Erkenntnis reifte, dass die Claudius-Höfe zu einem Zwanzig-Millionen-Projekt anwachsen würde.“ Am Ende war klar, dass es sogar 22 Millionen Euro sein würden. 2008 wurde das Sozialwerk gegründet, um integrative Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen neben der Schule. Das Sozialwerk übernimmt den Betrieb der Höfe.

Die Matthias-Claudius-Schule Bochum ist eine staatlich anerkannte evangelische Gesamtschule in privater Trägerschaft. Sie hat 1990 als Weiterführung der Matthias-Claudius-Grundschule ihre Arbeit aufgenommen. Seit dem Schuljahr 1998/99 ist die Schule bis zum Abitur ausgebaut. Zur Zeit besuchen 820 Schüler/innen die Klassen 5-13. Darunter befinden sich ca. 160 Schüler mit Behinderungen, die im Rahmen des „Gemeinsamen Unterrichts mit Behinderten und Nichtbehinderten“ unterrichtet werden.Der gemeinsame Unterricht wird in der Sekundarstufe II für die Schüler mit Behinderungen fortgeführt, die die Berechtigung zum Besuch der gymnasialen Oberstufe erworben haben.

„Schnell war uns klar: Wir brauchen 20 Prozent Eigenkapital, um das 22-Millionen-Projekt zu stemmen.“ Die Stiftung wurde gegründet, und es fanden sich zwei Stifter, die 4,5 Millionen Euro gaben: „Ähnlich wie beim Musikzentrum, nur eben im Stillen.“ Fast die Hälfte des Grundstückspreises verschlang die Vorbereitung der Industriebrache des ehemaligen Fuhrparks, so mussten u.a. die Flächen saniert und alte Bunkeranlagen verfüllt werden.

Ein Architektenwettbewerb folgte, den das Büro Heinle, Wischer und Partner für sich entschied. Das Konzept verlangte, eine Situation zu schaffen, in der sich Behinderte wohlfühlen, und am besten geeignet schien dafür die Organisationsform „Dorf“ mit Herberge, Laden, Gasthaus, Rückzugs- und Gemeinschaftsräumen. Die Bewohner wollen einen „Garten der Stille“ anlegen.

Integrative Arbeitsplätze für junge Leute

Zudem soll es auch einen „Raum der Stille“ geben, ausdrücklich aber nicht konfessionell anlegt: „Unsere Bewohner legen Wert darauf, dass wir auf eine religiöse Ausrichtung verzichten, denn dazu ist die Zusammensetzung zu unterschiedlich“, erklärt Gründer. Geschaffen werden zudem zehn Studentenapartments. 25 der 88 Wohnungen sind Sozialwohnungen. Der Kreis der Interessenten wuchs rasch; seit einen Jahr ist – mit Ausnahme weniger Studentenbuden – alles vermietet. Es gibt Drei-Liter-Häuser, sieben Passivhäuser, Solarthermiedächer; im zweiten Schritt sollen alle Flachdächer für Photovoltaik vorbereitet werden. Die noch anstehenden Restarbeiten sehen wüster aus als sie sind: „Wir können unseren Einzugstermin ab September halten.“

Auf der Baustelle tummelt sich auch der Filmemacher Christoph Böll („A Tribute to Max Imdahl“). Er dreht eine Dokumentation über Idee, Entstehung und Leben in diesem Wohnprojekt. „Ich interviewe die bunte Mietergemeinschaft und begleite sie mit der Kamera bis in die Zeit nach ihrem Einzug, in der sie vom neuen Leben im Dorf berichten.“

Ein Hotel mit 18 Zimmern wird – genauso wie das Café und die Wäscherei – integrative Arbeitsplätze bereithalten für junge Leute, die teils der Schule entwachsen sind, teils vom Arbeitsamt vermittelt werden. 20 integrative Jobs wird es im Dorf geben und 30 für Nicht-Behinderte. „Keine Dienstleistung für Behinderte in der Fläche – das leisten die Werkstätten bereits – sondern ein Pilotprojekt. Wir brauchen eine Stadtumbaupolitik, die sich Quartiere anguckt und Nischen schafft“, findet Willi Gründer: Eine Gemeinschafts- und Kommunikationsbildung, die die Leute nicht nur in die Wohnzimmer treibt.

30 bis 40 Kinder werden, wenn alle Wohnungen bezogen sind, durch die weitgehend autofreien und begrünten Anlagen toben. Ein Großteil der Wohnungen öffnet den Blick auf den Marktplatz, den auch Willi Gründer irgendwann vielleicht selbst genießen will. Und hat da gleich noch eine Idee: „Ich möchte auf die Fassade des Gemeinschaftsraums eine große Leinwand spannen. Dort könnten Filme gezeigt werden, die die Leute über Kopfhörer sowohl vom Platz als durch ihre Fenster sehen könnten.“