Bochum. 2700 Rentner in Bochum erhalten Grundsicherung vom Sozialamt. „Jährlich werden es rund 100 Bedürftige mehr“, berichtet Amtsleiterin Dr. Heide Ott im WAZ-Gespräch. Experten befürchten, dass die Altersarmut in den nächsten Jahren weiter steigen wird.

„Die Alten schämen sich am meisten“, sagt Gisela Büsse. Und die Alten kommen immer öfter in die DRK-Kleiderkammer, die sich im Hinterhof des Amtshauses Gerthe versteckt. Treppe runter. Kellergeschoss. Wer hier Hilfe sucht, ist ganz unten.

„Alles außer Möbel“ halten Gisela Büsse und ihr Mann Herbert bereit. An jedem zweiten Dienstag betreut das rührige Ehepaar ehrenamtlich die Rot-Kreuz-Kammer an der Heinrichstraße. An jedem zweiten Donnerstag ist Heidi Pommer die gute Seele inmitten von gebrauchten Mänteln, Jacken, Blusen, Hosen, Pullovern, Unterwäsche, Hüten, Schuhen, Bettzeug, Decken, Töpfen und Pfannen.

Warteschlangen vor den Lebensmittelausgaben

Über 30 Bedürftige bedienen sich an den Öffnungstagen. Viele Flüchtlinge. Viele Migrantenfamilien. Viele Obdachlose. Viele alleinerziehende Mütter. Aber auch Senioren, „von denen die meisten nie gedacht hätten, einmal hier zu landen“, schildert Gisela Büsse. Manfred Baasner, der mit der Wattenscheider Tafel über 10.000 Bedürftige versorgt, unterschreibt das Armutszeugnis. Auch in den Warteschlangen vor den Lebensmittelausgaben seien immer mehr Rentner zu sehen, sagt Baasner.

Geißel Altersarmut: Die gesetzliche Rente sichert für viele Ruheständler kaum das Nötigste zum Leben. Daher wächst die Zahl der Alten, die auf das Sozialamt angewiesen sind. 2700 Bochumer beziehen Grundsicherung: 391 Euro für Alleinstehende, für Eheleute jeweils 353 Euro. 21 Mio. Euro wendet die Stadt (ab 2014 der Bund) derzeit dafür auf. „Jährlich kommen 100 Bedürftige hinzu“, berichtet Sozialamtsleiterin Dr. Heide Ott. Früher hätten hauptsächlich Selbstständige die Stütze im Alter benötigt. „Inzwischen sind es vor allem ehemalige Arbeitnehmer mit Mini-Renten“, beobachtet Dr. Ott als Folge von Hartz IV und skandalös niedrigen Löhnen.

 Altersarmut hinter den Wohnungstüren verborgen

Lange blieb die Altersarmut hinter den Wohnungstüren verborgen. Längst ist sie im Stadtbild sichtbar. Rentner, die Abfallbehälter durchsuchen. Rentner, die bei VfL-Spielen Pfandflaschen auflesen. Rentner, die sich in der DRK-Kleiderkammer mit Textilien und Haushaltswaren eindecken.

Beim ersten Kammer-Besuch müssen sie den Bescheid über die Grundsicherung vorlegen. Still, mit verschämtem Blick, suchen sie sich Blusen, Jacken, Wäsche aus. „Auf Wiedersehen“, sagen Heidi Pommer und das Ehepaar Büsse.

Wohl schon allzu bald.

Bei der Pflege ist Altersarmut weiblich

Bochum wird nicht nur immer älter. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung wird im Alter auch immer ärmer. „Die Entwicklung ist besorgniserregend“, warnt Dr. Heide Ott, Leiterin des Amtes für Soziales und Wohnen, im WAZ-Gespräch.

Demografischer Wandel: Das bedeutet für Heide Ott vor allem Altersarmut. Und die ist weiblich. 3645 Heimplätze stehen stadtweit zur Verfügung. 1400 Bewohner erhalten Geld von Vater Staat („Ergänzungsbezug“), weil Rente, Pflegegeld oder Vermögen nicht ausreichen. 99 Prozent sind Frauen.

Anhebung der Grundsicherung

Auch bei der Grundsicherung sind die Rentnerinnen in der Mehrheit. Anspruch haben Bürger ab 65, deren Einkünfte unter Sozialhilfeniveau liegen. Besonders bedroht sind Dauerarbeitslose und Beschäftigte im Niedriglohnbereich. Deren Zahl nimmt stetig zu. 5000 Bochumer sind Aufstocker. Sie arbeiten voll, verdienen aber so wenig, dass das Jobcenter Zuschüsse gewährt. „Die, die heute schon arm trotz Arbeit sind, werden im Alter nicht besser da stehen“, beklagt der Paritätische Wohlfahrtsverband und fordert u.a. eine Anhebung der Grundsicherung.

Ein Besserung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil. Bald wird jeder dritte Bochumer über 60 sein. Sicher ist: Die hohe Arbeitslosigkeit der vergangenen Jahrzehnte wird zur weiteren Zunahme der Altersarmut führen. Folge: Noch mehr Senioren werden auf staatliche Unterstützung angewiesen sein.

"Viele Rentner beantragen keine Leistungen"

Dabei spiegeln die aktuellen Zahlen nicht einmal die wahre Not wider. Heide Ott: „Viele arme Rentner beantragen keine Leistungen. Aus Scham. Und weil sie ihren Kindern nicht zur Last fallen wollen.“

Deutlich steigen könnten nicht nur die Ausgaben für Grundsicherung und Heimkosten, sondern auch für das Wohngeld, das derzeit 6000 Mieter beziehen. „Weil viele Renten so mickrig sind“, so Dr. Ott, „hat inzwischen fast jeder Neurentner Anspruch auf Wohngeld.“