Bochum. 10.300 Kinder unter 15 Jahren in Bochum leben in Hartz IV-Familien - und damit an oder unterhalb der Armutsgrenze. Viele verlassen morgens hungrig das Haus. Die Wattenscheider Tafel sorgt dafür, dass in Kindergärten und Schulen ein gesundes Frühstück serviert wird.

Manchmal packt Manfred Baasner die Wut. Dann klingelt er bei einer der Familien an, die ihre Kinder morgens ohne Frühstück in die Schule gehen lassen. Oft erwarte ihn „ein Bild des Jammers“, schildert der Chef der Wattenscheider Tafel der WAZ. „Ich werde fortgejagt. Oder die Eltern liegen im Bett. Und das am späten Vormittag.“

Armut in Bochum: Davon sind auch immer mehr Kinder betroffen. 10.300 Jungen und Mädchen unter 15 Jahren wohnen in Familien mit Hartz-IV-Bezug, teilt das Jobcenter mit. Das heißt: Jedes vierte Kind in unserer Stadt lebt in Armut. Tendenz: steigend.
 

10 000 Menschen werden versorgt

Das tägliche Elend bekommt bei der Wattenscheider Tafel ein Gesicht. Besser: tausende Gesichter. Mit 450 ehrenamtlichen Helfern versorgt der im Jahr 2000 von Manfred Baasner gegründete Verein wöchentlich 10 000 Menschen im gesamten Stadtgebiet mit gespendeten Lebensmitteln. Die Kindertafel – eine der ersten in Deutschland – beliefert gezielt Schulen (derzeit 26) und Kindergärten (64). Die Namen der Einrichtungen darf Baasner ausdrücklich nicht nennen: „Die wollen das nicht.“

Dabei reicht ein Blick in den Sozialbericht. Der dokumentiert, dass die meisten Hartz-IV-Familien in Stahlhausen, Hamme und Werne leben. Eine Schulleiterin in einem sozialen Brennpunkt (auch sie will ungenannt bleiben) zur WAZ: „Manche Kinder bekommen morgens Geld mit. Dafür kaufen sie sich Chips und Eistee. Wir sprechen dann mit den Eltern. Manche zeigen Einsicht. Andere Schüler bleiben weiterhin sich selbst überlassen.“

Hilflos, überfordert, resigniert: „Es gibt in dieser Stadt unfassbare viele Familien, in denen die Kinder Not leiden. Junge und alleinerziehende Eltern sind besonders betroffen – mitunter schon in der vierten Generation“, weiß Manfred Baasner. Handelsketten überlassen der Kindertafel Obst und Gemüse (meist vom Vortag, aber noch immer knackig und frisch). Daraus wird in den Kindergärten und Schulen ein vitaminreiches Frühstück zubereitet. Wichtig: Das Essen ist für alle Jungen und Mädchen zugänglich. Jeder kann und soll zugreifen. Niemand soll ausgegrenzt und gebrandmarkt werden.

Eine Regelung, mit der nicht alle Eltern einverstanden sind. Immer wieder gibt es Mütter und Väter, die die Nase rümpfen und sagen: „Mein Kind isst keinen Abfall.“

Manchmal packt Manfred Baasner die Wut.

Alleinerziehende haben höheres Armutsrisiko

Alleinerziehende Eltern (meist sind es die Mütter) haben ein deutlich erhöhtes Armutsrisiko, weiß Sozialdezernentin Britta Anger. 40 Prozent der Kinder in Ein-Eltern-Familien leiden finanzielle Not: fast doppelt so viele wie in Zwei-Eltern-Familien. Eine bedrohliche Entwicklung: Der aktuelle Sozialbericht weist für Bochum über 8000 Alleinerziehende aus. Die Unterschiede zwischen den Stadtteilen sind groß. In Werne ist es jede dritte Haushalt mit Kind(ern), in Hordel nur jeder siebte.

„Gerade für Eltern wird in Bochum trotz knapper Kassen viel getan“, betont Britta Anger. Vom Begrüßungsteam des Jugendamtes bei Neugeborenen über die vielfältigen Angebote der Jugendhilfe bis zu den 35 Schulsozialarbeitern: „Wer Hilfe braucht, bekommt sie“, so Britta Anger. Das neue, umstrittene Betreuungsgeld haben bisher 900 Bochumer Eltern beantragt.

Vernachlässigung ist verhängnisvoll

„Kinderarmut reißt oft tiefe Wunden in Kinderseelen“, beobachtet Prof. Dr. Georg Juckel, Ärztlicher Direktor des LWL-Universitätsklinikums. Kein Geld für Markenjeans, das neueste Smartphone oder Kino und Schwimmbad: „In der Schule fühlen sich die Jungen und Mädchen vielfach als Außenseiter. Sie schämen sich.“

Es sei verhängnisvoll, dass Armut besonders für diese Kinder nicht selten auch Vernachlässigung bedeute. „Genau das Gegenteil ist vonnöten, um den Alltag zu meistern und späteren psychischen Erkrankungen vorzubeugen“, appelliert Juckel. „Gerade diese Kinder müssen gestärkt werden. Die Eltern müssen vermitteln: Es kommt nicht auf Geld, Klamotten, Handys an, sondern auf die soziale Einstellung, gute Noten, Freundschaft. Kinder mit diesen Werten werden auch arm glücklich sein.“

Trost zum Abschluss: „Auch verwöhnte Kinder reicher Schnösel haben oft psychische Probleme.“