Bochum. Immer mehr Beschäftigte werden Opfer von Mobbing am Arbeitsplatz - Jeder zehnte ist betroffen. Unsere Zeitung erzählt die Leidensgeschichte eines 61-jährigen Verkäufers. Fachärztliche Hilfe am WAZ-Telefon gibt es am Montag nächster Woche.

Akkurat, loyal, pflichtbewusst: Wilhelm Klein (Name geändert) zählt zu jener Gattung Arbeitnehmer, die morgens noch mit dem Kopf unterm Arm zum Dienst erscheinen. Längst hat er seine Würde verloren. Im WAZ-Gespräch bricht der 61-Jährige mehrfach in Tränen aus, wirkt hilflos, verzweifelt. Wilhelm Klein ist Mobbing-Opfer. Warum? „Ich habe nur eine Erklärung: Es geht um Macht.“

Ob auf dem Bau, im Büro oder in der Bank: Jeder zehnte Beschäftigte macht die schlimme Erfahrung, am Arbeitsplatz ausgegrenzt, gehänselt, beleidigt, drangsaliert und schikaniert zu werden. Meist trifft es Kolleginnen und Kollegen, die Prof. Georg Juckel, Chef des LWL-Universitätsklinikums, als „Typus Melancholicus“ charakterisiert: „die Introvertierten und Zweifelnden, die Grübler, die ,Weichen’, die sich jede Kritik zu Herzen nehmen, sich nicht frühzeitig wehren und sich – wenn auch unfreiwillig – zum Opfer machen lassen.“

Wilhelm Klein, ledig, kinderlos, arbeitet als Verkäufer in einem Einkaufsmarkt. „Anfangs lief es hervorragend. Die Kollegen waren prima“ – bis 2010 ein neuer Filialleiter auf dem Chefsessel Platz nahm. „Plötzlich war alles anders. Ich durfte keine Bestellungen mehr vornehmen. Ständig wurde ich vom Chef angeschrien, vor Kunden zusammengebrüllt und zu unsinnigen Arbeiten herangezogen. Der hatte es auf mich abgesehen. Der wollte mich fertigmachen.“

Seit 18 Monaten krankgeschrieben

„Unerträglich“ sei es geworden, als ein Kollege zum Abteilungsleiter befördert wurde. „Der hat sich um 180 Grad gedreht und galt fortan als Spitzel des Chefs.“ Klein ist von der Angst zerfressen, etwas falsch zu machen, Angriffsfläche zu bieten. Jeder Arbeitstag wird zur Tortur, der Betrieb zum Schlachtfeld. Nachts findet er kaum in den Schlaf. Er denkt an Kündigung. „Aber wo finde ich in meinem Alter noch einen neuen Job?“ Als er vor 18 Monaten mal wieder weit vor Schichtbeginn in die Firma fährt, um einen liegengebliebenen Auftrag zu erledigen, bricht der Verkäufer zusammen. Nichts geht mehr. Wilhelm Klein ist am Ende.

Mobbing in Gladbeck

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    „Ein typischer Fall“, sagt Diplom-Psychologin Marianne Meschke-Barth, die den 61-Jährigen in ihrer Sprechstunde in der LWL-Klinik betreut. Viel zu lange habe sich Klein das Mobbing seiner Vorgesetzten bieten lassen. Viel zu tief habe er sich ins Mauseloch verkrochen, ohne sich gegen die ständigen, offensichtlich unbegründeten Attacken zu wehren.

    Doch das ist leichter gesagt als getan. „Mobbing-Opfer haben häufig ein großes Schamgefühl und suchen die Schuld bei sich. Das zu überwinden, in die Offensive zu gehen und Hilfe anzunehmen, ist mitunter sehr, sehr schwer“, weiß Marianne Meschke-Barth.

    Wilhelm Klein ist seit dem Zusammenbruch vor eineinhalb Jahren krankgeschrieben. Die ambulante Therapie hat ihm Lebensmut zurückgegeben. Gern würde er wieder arbeiten, auch in seinem alten Job. „Aber nur, wenn der Filialleiter nicht mehr da ist.“ Diese Angst wird wohl immer bleiben.

    Fachärzte raten bei Mobbing - Klare Ansage, Öffentlichkeit suchen 

    Die Pflegerin, die immer die schwersten Touren und Schichten aufgedrückt bekommt. Der Busfahrer, der plötzlich auch im Urlaub arbeiten soll. Die Büro-Angestellte, der wichtige Besprechungen so kurzfristig mitgeteilt werden, dass sie zu spät kommen muss. Die Polizeibeamtin, die sich ständig der sexuellen Anzüglichkeiten und Übergriffe ihrer Kollegen erwehren muss: „Mobbing am Arbeitsplatz umfasst alle Branchen, wobei der Gesundheits- und Sozialbereich und der öffentliche Dienst besonders ausgeprägt sind“, berichtet Prof. Juckel, Ärztlicher Direktor des LWL-Klinikums.

    Die Kriterien sind streng: Die Experten sprechen von Mobbing erst dann, wenn ein Mitarbeiter ständig und gezielt über mindestens sechs Monate drangsaliert wird. Dennoch ist die Zahl der Betroffenen riesig: Sie wird auf eine Million Beschäftigte geschätzt. Frauen haben ein um 75 Prozent höheres Risiko. Unter 25-Jährige und über 55-Jährige sind häufig die Leidtragenden.

    Mit Mobbing wollen Kollegen unerwünschte Konkurrenz ausschalten

    Meist geht das Mobbing von den Kollegen aus; viele wollen damit unerwünschte Konkurrenz ausschalten. In jedem dritten Fall ist es der Vorgesetzte, der sich sein Opfer sucht und findet: „um Macht zu demonstrieren, um ältere und deshalb teure Mitarbeiter zu vergraulen, mitunter aber auch nur aus purem Sadismus“, schildert Juckel.

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    Seine wichtigste Maßgabe an die Opfer: „Klare Ansage! Öffentlichkeit herstellen! Das gilt gerade für Frauen, die sexuell bedrängt werden.“ Ein „Mobbing-Tagebuch“ ist ratsam. Am besten ist es, den Mobber vor versammelter Mannschaft zur Rede zu stellen: „Was machst du mit mir? Ich habe deine Strategie durchschaut!“ Sonst sind der Chef (wenn er nicht selbst der Täter ist) oder der Betriebs- und Personalrat Ansprechpartner. Größere Unternehmen haben eigene Mobbing-Beauftragte. „Aber da herrscht noch reichlich Nachholbedarf“, so Prof. Juckel.

    Direkthilfe am WAZ-Telefon erhalten Betroffene und deren Angehörige am kommenden Montag, 14. Oktober. Prof. Georg Juckel und Diplom-Psychologin Marianne Meschke-Barth (sie leitet die LWL-Sprechstunden „Stress am Arbeitsplatz“) beantworten von 15 bis 16 Uhr in der Redaktion die Fragen der Anrufer rund ums Thema Mobbing. Die Telefonnummern werden am Samstag und Montag in unserer Zeitung veröffentlicht.