Essen. Unsere Region hat in der Industriekultur ihre kulturelle Identität bewahrt. Eine Entdeckungsreise zur Jahrhunderthalle in Bochum.

Um 1900 waren es Glocken aus Gussstahl, mit denen der „Bochumer Verein für Bergbau und Gussstahlfabrikation“ weltweit von sich reden machte. Mittelpunkt des Stahlwerks im Stadtteil Stahlhausen war immer schon die Gaskraftzentrale, genannt „Jahrhunderthalle“: ein prächtiger, dreischiffiger Bau mit Basilika, Querschiff und spitzbogigen Fenstern, der eher an eine gotische Kirche erinnerte als an ein Produktionsgebäude der Schwerindustrie.

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Jahrzehntelang stampften hier riesige Maschinen und lieferten die Energie für die Gussstahlfabrik und angegliederte Werke. Seit 2003 ist die 10.000 Quadratmeter große Halle ein modernes Festspielhaus und Hauptspielstätte der RuhrTriennale. Außen durch moderne, schlichte Anbauten wie Foyer und Künstlergarderoben ergänzt, wurde sie im Inneren komplett restauriert und mit aufwändiger Technik ausgestattet.

Eine sehr gepflegte Grünanlage

In dem von der historischen Stahlkonstruktion geprägten Innenraum blieb der festliche, fast ein wenig sakrale Charakter und die über 100 Jahre alte Patina der Industriehalle erhalten. Auch die alten Kräne und Kranbahnen wurden sorgfältig restauriert und in das Bühnenkonzept integriert. Die Pläne für den Umbau hat das Düsseldorfer Architektenbüro Petzinka, Pink & Partner entwickelt.

Das ehemalige Werksgelände mit der Jahrhunderthalle mittendrin nennt sich heute Westpark. Es präsentiert sich als eine der wohl ungewöhnlichsten und sinnlichsten Parkanlage im Ruhrgebiet: mit hohen Stelzenbrücken und geschwungenen Radwegen, blau beleuchteten Spazierwegen in Birkenwäldchen, Aussichtskanzeln, Wasserbecken, einer industriearchäologischen „Grabungsstelle“, Spielplätzen und vielem mehr – eine ganz besondere und auch sehr gepflegte Grünanlage, die die Macken und Spuren der industriellen Vergangenheit ästhetisch einbezieht und an den schönsten Stellen kunstvoll überhöht.

Geschichte der Bochumer Jahrhunderthalle beginnt in Düsseldorf 

Die Gelände nahe der Bochumer Innenstadt lag nach der Werksschließung viele Jahre lang brach und wurde im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park (1989–1999) als zentrales städtebauliches Projekt beispielhaft saniert, indem Natur, Kultur und industrielle Vergangenheit miteinander verbunden wurden. Heute ist der Westpark über eine spektakuläre Brückenkonstruktion, die so genannte „Erzbahnschwinge“, an das regionale Radwegenetz angebunden. Für die Bewohner der umliegenden Wohnquartiere ist ein ansehnliches, stilles Naherholungsgebiet mitten in der Stadt entstanden, das zu jeder Jahreszeit zu Spaziergängen und Touren mit dem Rad einlädt.

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Die Geschichte der Bochumer Jahrhunderthalle beginnt in Düsseldorf. 1902 als Pavillon für die Düsseldorfer Industrie- und Gewerbeausstellung gebaut, diente sie zunächst als Ausstellungshalle. Der Entwurf stammte aus dem Baubüro des „Bochumer Verein für Bergbau und Gussstahlfabrikation“, das 1842 von dem Schwaben Jacob Mayer und dem Hamburger Eberhard Kühne gegründet worden war.

Hochmoderne Stahlkonstruktion

Mayer erfand 1850 den Stahlformguss, eine wichtige Voraussetzung für die Konstruktion von Stahlprodukten. Werbewirksam präsentierte man in der Ausstellungshalle eine 50 Meter lange Schiffswelle, geschmiedete Maschinenteile und natürlich Gussstahlglocken, die den weltweiten Ruf des Bochumer Vereins begründet hatten.

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Die luftig anmutende, damals hochmoderne Stahlkonstruktion, ist architekturhistorisch eines der ersten Beispiele für einen rein zweckbestimmten Ingenieurbau – obwohl die Halle in Form und Dekoration noch heute Assoziationen an Kirchenbauten weckt und vornehme Festlichkeit verströmt. Die sonst übliche Stütztechnik mit Balkenbindern wurde hier erstmals durch auf bis zum Boden durchgezogene stählerne Bogenbinder ersetzt.

Die Gussstahlglocke für die Weltfriedenskirche in Hiroshima

Von außen hingegen war die Halle mit Gips und Stuck verziert. Nach Ende der Gewerbeausstellung wurde die Stahlkonstruktion der Halle wie geplant demontiert und 1903 in Bochum auf dem Gelände des Bochumer Vereins zwischen Werksbahn und Hochofenanlage wieder aufgebaut. Hier diente sie nicht mehr der Repräsentation, sondern als Gaskraftzentrale für die Hochöfen im Gussstahlwerk.

Im Laufe der Jahre wurde die Halle wieder und wieder erweitert, bis sie ihre heutige Größe von 158 Metern Länge, 34 Metern Breite und 21 Metern Höhe erreicht hatte. In der wirtschaftlichen Blütezeit des Werkes um 1938 waren hier bis zu 16.500 Arbeiter beschäftigt. Die Jahrhundertglocke der Frankfurter Paulskirche (1948) und die Gussstahlglocke für die Weltfriedenskirche in Hiroshima (1952) stammen aus Bochum. Mit der Stilllegung des letzten Hochofens Ende der 1960er Jahre wurden die Maschinen in der Halle demontiert. Bis 1991 diente sie als Lager und Werkstättengebäude der Krupp Stahl AG. In diesen Jahren entdeckte der Dirigent Eberhard Kloke die Jahrhunderthalle erstmals für konzertante Aufführungen und legte damit den Grundstein für die spätere Nutzung.

Stichwort RuhrTriennale – Museen in Maschinenhallen 

Unheimliche Orte waren das: Jene rumpelnden und zischenden Vorhöllen mit ihren riesenhaften Maschinen. Heute sind die Fabrikhallen Denkmäler und stille Zeitzeugen des Industriezeitalters, gefragte Kulissen und Spielorte für Kunst und Kultur. In Zechen, Hütten und Kokereien finden Konzerte und Ausstellungen statt, rezitieren Künstler Texte von Kafka und Heinrich von Kleist.

Seit 2002 widmet sich die RuhrTriennale dem Experiment, mit kontrastreichen Inszenierungen Hochkultur zu schaffen – Pflichttermine für Kulturtouristen, die zwischen nacktem Mauerwerk und Maschinen den Wandel des gebeutelten Reviers bestaunen. Die Idee kam an: Unter Leitung des Gründungsintendanten Gerard Mortier war die Triennale von Beginn an ein Publikumserfolg. Am 30. April 2003, 100 Jahre nach ihrer Errichtung als Gaskraftzentrale, wurde aus der Bochumer Jahrhunderthalle die „Montagehalle für die Kunst“.

Idealismus, Erfindungsreichtum und Großmut

In den 1990er Jahren war die Nutzung von Industriehallen für Kultur und Hochkultur nach und nach salonfähig geworden. Geradezu wegweisend hatte das Festival „Musik im Industrieraum“ auf das Wechselspiel zwischen klassischer Musik und Architektur gesetzt. Die Konzerte in der damals noch nicht sanierten Jahrhunderthalle Bochum fanden im wahrsten Sinne des Wortes Anklang, denn das Publikum war gleichermaßen neugierig auf die Kunst wie auf die Orte selbst.

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Erstmals hatte man bei diesen Anlässen Gelegenheit, die jahrzehntelang nicht zugänglichen Arbeitsstätten zu betreten und als „Fabriksaal“ neu zu erleben. Dabei waren die Veranstaltungen nicht selten Expeditionen in ein Abenteuer: Hallen ohne jegliche Heizung oder gar Garderoben muteten Künstlern wie Besuchern ein Höchstmaß an Idealismus, Erfindungsreichtum und Großmut ab.

Willy Decker als künstlerischer Leiter

Geliebt wurden sie wohl gerade deswegen. Heute erfüllen die Hauptspielorte der RuhrTriennale – die Jahrhunderthalle Bochum, die Zeche Zollverein in Essen, der Landschaftspark Duisburg-Nord und die Maschinenhalle Zeche Zweckel in Gladbeck – höchste Standards, ohne dabei ihren industriellen Charme verloren zu haben.

Die RuhrTriennale, gefördert mit Mitteln der Landesregierung NRW, der Europäischen Union sowie Partnern aus der Wirtschaft, wurde innerhalb kürzester Zeit ein erfolgreiches Stück Strukturwandel und zugleich Teil der neuen Ruhrgebiets-Identität. Für den dritten Triennale-Zyklus von 2009 bis 2011 konnte Willy Decker als künstlerischer Leiter gewonnen werden.