Bochum. . Griechische Jungakademiker und Fachkräfte verlassen zu Tausenden ihr Land. Im WAZ-Interview sprechen sie über die Hintergründe: junge Ärzte, Betriebswissenschaftler, Ingenieure, Köche.
Die Welle griechischer Auswanderer, die ihr berufliches Glück beim Wirtschaftsriesen Deutschland suchen, ist zugleich eine Migrationswoge flüchtender Akademiker und Wissenschaftler. Hier, wo Fachleute händeringend gesucht werden, haben sie Zuflucht gefunden. Von einer neuen Heimat sprechen sie zwar noch nicht, wohl aber über die Gründe ihrer Ausreise. Die WAZ sprach mit sechs von ihnen – Barbara Dogiami, Antonios Kerasnoudis, Panagiota Ntasiou, Nikolaus Renieris, Georgios Dogiamis, – junge Ärzte, Betriebswissenschaftler, Ingenieure, Köche.
Was hat den Ausschlag gegeben, nach Deutschland umzusiedeln?
Antonios Kerasnoudis: Es ist die fundierte Ausbildung, die man oder frau hier bekommt. Die Medizin hat in Deutschland höchstes Niveau, Forschung und Therapiemöglichkeiten für Ärzte sind hier wesentlich umfangreicher und tiefgründiger als anderswo.
Barbara Dogiami: Das griechische System gleicht dem der ehemaligen DDR – ich hatte es so satt. Als junge Akademikerin reiht man sich nach Abschluss des Studiums in eine schier endlose Warteschlange ein. Ich habe 2004 meine Approbation als Ärztin erhalten und mich bei der Präfektur für eine Anstellung in einem Athener Krankenhaus beworben. Für 2008 hat man mir dann eine Stelle in Aussicht gestellt.
Panagiota Ntasiou: Bei mir war es ähnlich. Als Betriebswirtin, die sich bei einer Bank oder einem größeren Unternehmen bewerben wollte, waren die Einstellungskriterien völlig unrealistisch: Studienabschluss mit 25 Jahren, zehn Jahre Berufserfahrung.
Georgios Dogiamis: Ich arbeite in einem speziellen Bereich der Mikro-Elektronik. Firmen, die integrierte, flexible Computerchips entwickeln sind sehr sehr rar in Griechenland. Und bei Einstellungsgesprächen, so meine bittere Erfahrung von dort, zählt nicht das Wissen, sondern die Bekanntschaft. Mir wäre nur der Schritt in die Selbstständigkeit geblieben. Ein unkalkulierbares Risiko, in der aufziehenden Krise eher ein Selbstmordkommando.
Nikolaus Renieris: Seit 14 Jahren arbeite ich als Koch, war nie arbeitslos. In der Gastronomie in und um Athen gab’s immer Arbeit. Jetzt haben 80 Prozent der Köche dort keinen Job mehr. Nur wer Vitamin B ins Spiel bringen kann, hält sich über Wasser.
Vorausgesetzt, Sie hätten einen Job gefunden, wie viel hätten Sie denn als Fachkraft in Griechenland verdient?
Ntasiou: Nach dem Studium habe ich in einem Steuerbüro nahe Athen gearbeitet. Vollzeit. Ich habe 300 Euro bekommen im Monat – ohne eine Sozialversicherung. Und das ist heute da noch so.
Renieris: Vor drei Jahren hatte ich 2000 Euro in der Tasche, heute wären es 800 Euro. Ein Kellner hat vor der Krise mindestens 12 Prozent seines Tagesumsatzes verdient, heute sind es vielleicht noch 20 bis 30 Euro pro Tag.
Kerasnoudis: Meine Mutter ist leitende Oberärztin in einem Krankenhaus in Griechenland, sie hat 25 Jahre Erfahrung und verdient die Hälfte von dem, was ich hier als Assistenzarzt bekomme.
Liege ich falsch, wenn ich für einen jungen Neurologen in Assistenz im Schnitt etwa 3800 Euro brutto im Monat veranschlage?
Kerasnoudis: Nein, das kommt in etwa hin.
Dogiamis: Im privaten Sektor verdienen Ingenieure bei Erstanstellung gut ein Drittel weniger als in Deutschland. das Gehaltsgefälle im Vergleich ist enorm. Im staatlichen Sektor, ohne einen Doktortitel, liegt es sogar bei 50 Prozent. Bei so genannten Global Players wie Siemens oder Bosch bekommt man hier umgerechnet das Dreifache. Klingt abwegig, ist aber reell, weil in Griechenland die Lebenshaltungskosten für Lebensmittel, Strom, Wasser und Miete in den vergangenen Jahren regelrecht explodiert sind.
B. Dogiami: Der griechische Staat hat die Gehaltspyramide umgedreht. Ein Müllwerker in Athen kommt mit Nachtschichten auf 3500 bis 4000 Euro brutto, er verdient damit deutlich mehr als ein Arzt im Krankenhaus. Was als Maßnahme gegen die „Fakelaki“-Praxis (Bezeichnung für eine bestimmte Form der Korruption. Dabei wird dem Empfänger diskret ein Geldbetrag in einem Umschlag überreicht, um bestimmte Vorteile zu erzielen oder gar erst Gehör zu finden. Anm. d. Red.) gedacht war, sorgt jetzt dafür, dass Griechenland an Fachkräften ausblutet.
Wem geben Sie die Schuld für die Missstände?
Renieris: Zu einem Prozent den Politikern, zu 99 Prozent den Bürgern. Denn sie bzw. wir haben es versäumt, die Politik zu kontrollieren. Auf dieser Basis war es leicht, Korruption und Vetternwirtschaft über Jahrzehnte Tür und Tor zu öffnen.
(Die anderen nicken)
Kerasnoudis: Die Politik hat es vermieden, den Bürgern zu erklären was Stand der Dinge ist und wie die Finanzlage in Wahrheit aussieht. Die Nähe vieler zur Politik, die immer auch Stimmen gekauft hat und zudem lukrative Jobs – auch und gerade im Staatsdienst – in Aussicht gestellt hat, bis hinunter auf kommunale Ebene – war tödlich.
B. Dogiami: Und es war leicht, an Geld zu kommen. Es war ja auch genug da, so der vorherrschende Eindruck für alle die, die ein Geschäft eröffnen, ein Haus oder Hotel bauen oder Ähnliches machen wollten. Mitunter haben die Banken keine Bürgschaften verlangt. Dumm nur, dass nicht jeder weiß, wie man einen Betrieb rentabel führt. . .
Dogiamis: Und unser Leben war über lange Jahre fremdbestimmt, Stichwort Osmanisches Reich, deutsche Besatzung, Militärjunta – das hat nach deren Ende dazu geführt, dass jeder glaubte, machen zu können was er will.
(Wieder nickt der Rest)
Und wie sind Sie dann hier aufgenommen worden, war es ein Spießrutenlaufen?
Dogiami: Ich habe gerade meine Facharztprüfung in Münster bestanden. Selbst in der Prüfung war Griechenland ein Thema. Aber das Komitee sagte zu mir: „Keine Angst, wir helfen ja gern“. Soll heißen: Es gibt immer mal den ein oder anderen ironischen Spruch, von Anfeindungen kann aber keine Rede sein.
Renieris: Ich muss sagen, ich hatte mehr Probleme erwartet. In der Regel werde ich gefragt: Wie konntet ihr das zulassen? In den Medien in Griechenland wird das Thema Anfeindungen für griechische Migranten hochgekocht, ebenso umgekehrt für Deutsche, die nach Griechenland kommen. Die Wahrheit ist: Wir brauchen einander. Ich bin ganz und gar freundlich aufgenommen worden.
Kerasnoudis: Der Empfang war freundlich, ich wurde nett vom Team im Krankenhaus eingearbeitet und ich hatte genug Raum, meinen eigenen Weg zu finden.
Ntasiou: Stimmt. Ressentiments bekomme ich nicht zu hören.
Dogiamis: Was auch sicher ein wenig damit zusammenhängt, dass wir als Fachkräfte begehrt sind. Wir sind ein wichtiges Glied in der Wertschöpfungskette.
Und das deutsche Arbeitsleben, der ach so programmmantische Rhythmus . . .
Kerasnoudis: Beim Arbeitsprozess hier steht das Team dahinter und das Ergebnis im Vordergrund, in Griechenland ist man da mehr Einzelkämpfer. Spontane Entscheidungen scheinen in einer deutschen Gesellschaft dagegen schwerer zu treffen sein, es fehlt ein wenig die Flexibilität. Ein gemütliches Treffen mit deutschen Bekannten muss recht lang vorbereitet und abgesprochen sein.
B. Dogiami: Behörden, Ämter, Verwaltung, Infrastruktur sind großartig in Deutschland. Ich musste mich hier erst einmal daran gewöhnen, dass mir hier bei Formalitäten auch wirklich geholfen wird. Ein riesiger (Standort-)Vorteil. Beneidenswert.
Ntasiou: Ein deutsches System ist genau das, was Griechenland braucht, um die Wende zum Positiven endlich zu schaffen. Ich glaube, sehr viele Griechen würden das akzeptieren. Dann würden sie sehen, dass ihre Steuern nicht irgendwo versickern, sondern in Bildung und andere Infrastruktur flößen.
(Eifriges Nicken)
Heißt, an Rückkehr in Ihre Heimat denken Sie vorerst nicht, überhaupt nicht?
Kerasnoudis: Die Qualität der Arbeit ist für mich ein Hauptkriterium für die Entscheidung, zu bleiben oder zu gehen. Zunächst ist es kein Ziel, zurückzukehren.
Ntasiou: Alles ist im Fluss, schwer da die richtige Entscheidung zu treffen. Gerade als junge Familie und Mutter. Da verändert sich der Blick. Vorerst gibt es wohl kein Zurück.
Dogiami: Ich bin da offen. Heimat ist Heimat. Da fühle ich mich einfach wohler. Und da sind ja auch die ganzen Verwandten und Freude. Mir würde es nichts ausmachen, wieder in Griechenland zu leben, auch mit weniger Geld. Aber ich brauche eine Aussicht auf einen Job, feste Strukturen, klare Regeln.
Dogiamis: Der Tourismus hält oder hielt das Land am Leben, noch. Ein Sparpaket nach dem anderen wird die Wirtschaft zu Grunde richten. Was bleibt ist ein Land, dem die Jungen fehlen, während die Alten im alten Rhythmus verharren. Griechenland könnte ein energie- und wasserunabhängiges Land sein, auf dem Niveau von Luxemburg. Aber: 30 Jahre hat der Staat nicht funktioniert, warum also jetzt? Rückkehr ist alsbald kein Thema für mich.
Renieris: Die Sehnsucht nach Heimat ist da, besonders nach der Familie. Ich befürchte aber, es bleibt bei Besuchen und eine baldige Rückkehr ein Traum, weil es Jahre braucht ein marodes System wie dieses zu erneuern.