Bochum. .

Die Bochumer Polizei mit rund 2000 Mitarbeitern steht unter immer größerem Arbeitsdruck. Über das Problem sprach WAZ-Redakteur Bernd Kiesewetter mit dem 1. Polizeihauptkommissar Holger Richter (51). Er ist Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP) für Bochum, Witten und Herne.

Immer wieder hört und liest man, dass die Polizei unter Arbeitsbelastung leidet. Wie sieht das in Bochum aus ?

Holger Richter: Zurzeit stehen landesweit 1400 Polizisten weniger zur Verfügung stehen, als offiziell gebraucht werden. Vor diesem Hintergrund arbeiten wir auch in Bochum nicht selten am Limit und gehen unter Druck auch bis an die Grenze unserer Belastbarkeit. Dem hohen Engagement und der enormen Flexibilität unserer Kolleginnen und Kollegen ist es zu verdanken, dass Hilfe immer noch dort ankommt, wo sie benötigt wird. Im September beenden zum ersten Mal 1100 junge Polizistinnen und Polizisten ihre Ausbildung in NRW, 600 mehr als im Jahr zuvor. Ob sich vor diesem Hintergrund die angespannte Personalsituation beim Polizeipräsidium Bochum endlich entschärfen wird, ist aktuell noch nicht bekannt.

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Von DerWesten


Welche Bereiche sind besonders betroffen?

Richter: Die Bereitschaftspolizei unterliegt extremen Einsatzbelastungen wie etwa bei Fußballspielen und Demos. Es gibt kaum planbare frei Wochenenden. Das führt zu tausenden Überstunden. Bei der Bereitschaftspolizei, insbesondere aber im Streifendienst, ist eine zunehmende Gewalt gegen Polizeibeamte mit physischen und psychischen Belastungen zu beklagen. Einzelne Kommissariate leiden unter immensem Vorgangsdruck. Zuweilen sind uns Straftäter leider technisch einen Schritt voraus. In der Verwaltung wurde das Personal in den letzten Jahren um jeweils 1,5 % gekürzt. Diese Arbeitsverdichtung muss zum Teil mit Polizisten aufgefangen werden.

Werden Überstunden erfasst und auch ausgeglichen ?

Richter: In Bochum fallen rund 150.000 Überstunden pro Jahr an. Zwei Drittel davon werden durch Freizeit und Bezahlung ausgeglichen. Das verbleibende Drittel erhöht jährlich den vorhandenen Überstundenberg. Das macht bei 2000 Beschäftigten einen Zuwachs von ca. 25 Überstunden pro Mitarbeiter im Jahr aus.

Gibt es konkrete Beschwerden von Polizeibeamten wegen zu viel Arbeit ?

Richter: Bedenkt man, dass die Polizei überwiegend fremdbestimmt arbeitet und keinen Auftrag ablehnen oder vernachlässigen kann, ist insbesondere bei erhöhtem Einsatzaufkommen Stress programmiert. Aus Gesprächen in den Dienststellen wird deutlich, dass Belastungen existent sind und sie steigen spürbar an. Aber gerade in Spitzenzeiten nehmen sich Polizisten in der Regel nicht die Zeit zu jammern. Umso wichtiger ist es, aufkommende Hinweise ernst zu nehmen und berechtigten Beschwerden unverzüglich zur Einleitung von Gegenmaßnahmen auf den Grund zu gehen. Dadurch reißt man natürlich an anderer Stelle eine Lücke. Alles in allem kein akzeptabler Dauerzustand.

80 Prozent aller Übergriffe gezielt gegen Polizisten im Alltagsdienst

Was tut die Gewerkschaft gegen das Problem ?

Richter: Der GdP ist es mit enormen Kraftanstrengungen gelungen hinsichtlich unserer Personalausstattung, der dramatischen Altersstrukturentwicklung und absehbarer Pensionierungswellen bei der Politik ein Umdenken zu erwirken. Berücksichtigt man, dass noch vor dem Jahre 2008 lediglich 480 Neueinstellungen vorgenommen wurden, so stiegen die Einstellungszahlen ab 2008 jährlich auf 1100. Letztlich ist es uns sogar gelungen für das laufende Jahr 2011 eine Einstellungsermächtigung für 1400 neue Kolleginnen und Kollegen landesweit zu erkämpfen. Unser Einsatz führt sogar zu einem kurzfristigen Personalaufbau bis 2016. Aber selbst diese erhöhten Einstellungszahlen werden schon ab 2017 nicht mehr ausreichen, um die ansteigenden Pensionierungen zu kompensieren. Ab 2020 würde bei Beibehaltung der aktuellen Einstellungsermächtigung ein Personalrückgang erfolgen. Mit der in letzter Zeit dramatisch angestiegenen Gewalt gegenüber der Polizei - über 80 Prozent aller gewalttätigen Übergriffe richten sich gezielt gegen Polizisten im normalen Alltagseinsatz - hat sich die GdP ganz intensiv dem Schutz von Polizistinnen und Polizisten gewidmet. Ein Teil unserer Forderungen nach Schutzmaterial ist man zwischenzeitlich nachgekommen. Forderungen nach Strafverschärfungen sind noch unerfüllt.

Holger Richter.
Holger Richter. © WAZ FotoPool

Trifft die demografische Entwicklung auch die Polizei ?

Richter: Auf jeden Fall! Wir lassen nicht zu, dass die Polizei zukünftig mit folgender Annonce „62-jähriger Polizist sucht gleichaltrigen Straftäter zwecks Verfolgung“ aufwarten müsste. Mit besonderen physischen und psychischen Belastungen müssen unsere Kolleginnen und Kollegen ohnehin immer wieder umgehen. Darüber hinaus müssen wir immer mehr Arbeitspensen mit immer älter werdendem Personal kompensieren. Wir haben dem Innenministerium im Juli 2010 konkrete und zielorientierte Vorschläge für ein „ganzheitlichen Gesundheitsmanagement“ unterbreitet und uns im Gesundheitsinteresse aller Polizeibeschäftigten damit durchgesetzt. Und in Bochum haben wir diesbezüglich bereits eine Vorreiterrolle übernommen.

Was droht wegen der hohen Arbeitsbelastung im ungünstigen Fall?

Richter: Im ungünstigsten Fall drohen Qualitätsverluste, in Spitzenzeiten kritische Zeitverluste und größere Risiken für unsere Einsatzkräfte im Zuge von Einsatzbewältigungen und damit möglicherweise Schutz- und Sicherheitsdefizite für unsere Bürger in Bochum, Herne und Witten. Zweifelhaft bleibt aus unserer Sicht, ob zukünftig Großveranstaltungen entfallen würden, weil die Polizei die Sicherheit nicht mehr gewährleisten kann.

„Als Waffenträger keine geringere Verantwortung als Lehrer und andere Intellektuelle“

Bleibt der Beruf des Polizeibeamten ein attraktiver?

Richter: Neben den zum Teil gefährlichen Schutzaufgaben bietet bereits der abwechslungsreiche Polizeialltag eine ständige Herausforderung, wobei allein schon die zahlreichen menschlichen Kontakte und die Arbeit im Team viel Reizvolles und Attraktives mit sich bringen. Außerdem genießen wir ein relativ hohes Ansehen bei der Bevölkerung. Das Interesse für den Polizeidienst in NRW liegt mit über 8000 Bewerbern pro Jahr nach wie vor entsprechend hoch. Als Waffenträger, die autorisiert sind, in Grundrechte einzugreifen, haben wir keine geringere Verantwortung als Lehrer und andere Intellektuelle. Junge Polizistinnen und Polizisten werden mittlerweile direkt nach dem Bachelor-Studium in den gehobenen Dienst übernommen. Damit ist der Gesamtstatus der Polizei in NRW angehoben und der Berufsstand attraktiver geworden. Ein Berufsanfänger verdient je nach Familienstand zwischen 1800 Euro und 2200 Euro netto.

Und wie sehen die älteren Kollegen ihren Beruf heute?

Richter: Ob der ein oder andere älteren Kollege unseren Beruf nach mehreren Jahrzehnten immer noch als erstrebenswert ansähe, bleibt dahingestellt, da trotz hoher Gefährdungsgrade und gestiegener Arbeitsanforderungen in zurückliegenden Jahren schwerwiegende soziale Einschnitte und Gehaltsrückschläge hingenommen werden mussten.