Bochum.

Der türkische Regisseur Mahir Günsiray reduziert Goethes „Faust I und II“ auf vier Figuren, verachtfacht den Mephistopheles und lässt eine Himmelfahrt nicht zu. Eine Inszenierung, die Rätsel aufgibt.

Die Bühne ist offen und düster. Sie erinnert mit den herab hängenden Schnüren an eine abgewrackte Zechenkaue, aber es könnte sich genausogut um die Resterampe eines Istanbuler Basars handeln. Mit acht Schauspielern, die sich fläzen und gegenseitig schurigeln, wartet das Publikum auf Faust. Nach langen Minuten, in denen man dm durchgeknallten Fellini-Trupp bei seinem Bühnentreiben irritert zugesehen hat, stürzt Faust schließlich herein. Er ringt sich – ziemlich theatralisch, wie es scheint – die berühmten Worte ab („Habe nun, ach, …) - und schon geht’s los, aber so richtig!

Das Tor zur Hölle

Denn die Tür, die er durchschreitet, ist gleichsam das Tor zur Hölle. Die Acht, die ihn empfangen, sind acht Mal Mephistopheles, acht böse Teufel, und man ahnt gleich, was der gute Faust von diesen aggressiven, obszönen Lemuren zu erwarten hat. Die Mephistos werden den Sinnsuchenden umschwirren und piesaken wie böse Insekten, werden ihn narren und täuschen, ihm Liebesfreuden vorgaukeln und eine Ehe mit der Griechin Helena. Und alles nur, um ihn dann dem Nichts zu überantworten. Denn dieser Faust wird nicht errettet, den zieht am Ende das ewig Weiblichen nicht hinan. Warum nicht? Weil Mahir Gülsiray aus Goethes „Faust“ das Gottesweben heraus geschnitten hat. Einfach so. Schnipp! Erlösung? Is’ nicht!

Um Faustens Seele

Überhaupt hat der Regisseur nicht nur diesen nicht ganz unbedeutenden Aspekt von Goethes Dichtung ausgespart; die berühmte Wette um Faustens Seele schließt kein Gottvater mit dem Mephistopheles, das machen die acht Teufelchen schon selbst mit Faust aus. Es geht zum Gretchen, nach Südosten, nach Arkadien, zur Landgewinnung. Nur eben nicht in Auerbachs Keller, und nicht auf den Osterspaziergang und nicht zu den Müttern. Dieser „Faust“ ist eine beherzte Amputation des Goethe-Textes, den Günsiray so lange beschneidet, bis er auf dessen „Subtext“ kommt. Nur vier Rollen (Faust, Mephisto, Homunculus, Lynkeus) weist das Programmheft für diesen Faust I & II-Mix aus.

Am Ende stirbt er unerlöst

Was aber ist der „Subtext“? Für Gülsiray die desillusionierende Erkenntnis, dass in diesem Leben das eigene Glück ohne das Unglück anderer nicht zu haben ist. Faust, der Liebende,Faust, der Ingenieur, Faust, der Familiengründer, Faust der immer wieder Scheiternde. Am Ende stirbt er, wie gesagt, unerlöst. Was bleibt ist das Nichts, und so sieht die leere, düstere Bühne dann auch aus. Asche zu Asche.

Momente, die haften bleiben

Ein metaphysischer Ansatz, sperrig, verstiegen, nur beiläufig poetisch. Das ist nett anzusehen, aber ohne Text-Kenntnis muss man an diesem dreistündigen Gedankenexperiment verzweifeln. Gut, dass die Schauspieler eine geschlossene Ensembleleistung abrufen, wobei vor allem Therese Dörr als blutverschmiertes Gretchen, Bettina Engelhardt als schöne Helena, Roland Riebeling als hinkender Mephisto und Xenia Snagowski als zarter Homunculus Momente haben, die haften bleiben. Andreas Grothgars Faust ist sehr präsent, ein vitaler Manager, aber zu selten wird das, was ihn antreibt, auch sinnlich fassbar.

Applaus und Buh-Rufe

Der vermeintlich fremde Blick auf das urdeutsche Drama machte zunehmend ratlos. Man kann Faust so inszenieren. Aber es wäre ohne Weiteres auch der gegenteilige Ansatz denk– und begründbar. Vielleicht lag es an jener feinen Ader der Beliebigkeit, die diese Inszenierung durchzieht, dass der „türkische Faust“ am Ende mit herzlichem Applaus, aber auch mit herzhaften Buh-Rufen quittiert wurde.