Bochum.
Der 14-jährige Qualle verbringt seine Schultage oft auf der Straße. Er schnorrt sich Geld zusammen. Rauchen, Bier und Drogen – das hat er alles schon erlebt.
Qualle ist heute nur kurz in der Schule gewesen. Was die da sagen, das interessiere ihn nicht, sagt der 14-Jährige. Jetzt sitzt er in der Fußgängerzone. Vor ihm steht ein Töpfchen mit Kleingeld. Qualle blättert durch einen Roman. Irgendwas mit Universum. Ab und zu wirft jemand Geld in den Becher. Schnorren nennt er das, Schuleschwänzen das andere.
Die Fehlstunden hat er gezählt. Jedes Halbjahr seien es bis zu 300. „Ich bin oft krank.“ Auf seiner Schule – einer Förderschule für schwer erziehbare Kinder – sei das aber normal. Der 14-Jährige hält sich selbst nicht für einen pädagogischen Problemfall: „Ich lasse mir eben nicht alles gefallen.“
Seinen Alltag beschreibt der Schüler in wenigen Stichworten. „Halb acht aufsteh’n. Zu spät zur Schule kommen. Schnell wieder gehen. Ein bisschen streunen. Und dann auf der Straße sitzen.“ Seine Freunde verpassten ihm den merkwürdigen Spitznamen. Wie’s dazu kam, weiß er nicht mehr. Die Freunde hat er auf der Straße kennengelernt. Auch seine Freundin. „Die ist selbst so wie ich.“
Er brauche das Geld vom Schnorren. Sein Vater gebe ihm nur fünf Euro in der Woche. „Damit komme ich nicht aus.“ Nur zum Schlafen gehe es nach Hause. Mit dem Papa gebe es oft Ärger ums Geld. „Sonst ist der ziemlich korrekt.“ Eine Mama gibt’s nicht mehr. „Die ist verstorben“, sagt Qualle. Der harte Kerl bekommt feuchte Augen.
Nach außen demonstriert Qualle Protest. Auf einem Aufnäher an seiner Jacke steht „Fuck you“. Reine Rebellion sei das. „Ich will eben nicht so sein wie andere.“ Das zeigt der Schüler am ganzen Körper. Die Haare sind zum Teil geschoren, ein paar bunt gefärbte Strähnen wehen im Wind. Er sieht aus wie 18. Qualle trägt hohe Stiefel und kurze Hosen. Punk ist sein Leben.
Die gleichnamige Musik habe vielleicht auch zum Bruch in seinem Leben geführt. „Ich hab’ irgendwann, als ich zwölf war damit angefangen“, sagt Qualle. Er schluckt. „Jetzt sitze ich hier.“
Rauchen, Bier, Drogen – das hat er mit seinen 14 Jahren schon alles erlebt. „Ich bin kein Alkoholiker“, sagt er. Das sei ihm wichtig. Klar, er habe auch schon Marihuana geraucht. „Ab und zu mal gekifft. Das mach’ ich aber kaum noch.“
Die Schnorrerei bereitet immer mehr Probleme: „Ich darf keine Leute mehr ansprechen.“ Das Ordnungsamt in Dortmund habe ihm gerade erst eine Verwarnung ausgesprochen. 35?Euro koste das. Und der Vater bekommt einen Brief nach Hause. Was für Qualle schlimmer ist als jede andere Strafe. „Ich habe Angst, dass ich ins Heim komme.“
Der Junge mit dem Angst einflößenden Äußeren ist still geworden. Er denkt nach. Über sich, das sagt er. „Ich will meine Schule zu Ende machen.“ Es sei ihm doch wichtig, später mal eine richtige Ausbildungsstelle zu finden. „Ich will mehr im Leben als nur fünf Euro in der Woche.
Qualle packt das Buch in die Tasche. Er schnürt den Rucksack zusammen. Ab nach Hause. Das ungewöhnliche Gespräch hat ihn geschafft. „Jetzt hab’ ich keine Lust mehr.“