Experten erklärten beim WAZ-Medizin-Dialog, wie alltägliche Gewohnheiten, Alkohol oder Drogen in die Sucht führen können.
Einkaufen, Alkoholkonsum, Computernutzung - was für viele zu einer Gewohnheit geworden ist, kann unter Umständen zur Abhängigkeit führen. Doch weshalb erliegen manche Menschen einer Kauf-, Alkohol-, Drogen- oder Spielsucht, während andere nicht abhängig werden? Dieser Frage und vielem mehr rund um das Thema Abhängigkeit gingen die Experten bei dem WAZ-Medizin-Dialog „Die Vielfalt der Süchte - Wie aus Gebrauch Abhängigkeit wird”, moderiert von WAZ-Redaktionsleiter Werner Conrad, nach.
Prof. Dr. Juckel, Ärztlicher Direktor der LWL-Uniklinik, Dr. Patrik Roser und Dr. Marc-Andreas Edel, Oberärzte an der LWL-Klinik, sowie Gesa Janssen, leitende Psychologin an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Suchtmedizin der Kliniken Essen-Mitte/ Evangelische Huyssens-Stiftung, erörterten alles über legale und illegale Suchtmittel, deren Auswirkungen auf Körper und Psyche sowie über die Bekämpfung der Abhängigkeit.
Immer stärkere Reize, "damit's richtig schön knallt"
Viele Besucher waren in das Hörsaalzentrum des St. Josef Hospitals gekommen, um zu hören, wie eine Abhängigkeit entsteht. Prof. Dr. Juckel erklärte ihnen, dass „das Belohnungssystem im Gehirn anspringt, wenn wir uns etwas Nettes, etwa Alkohol, Musik oder Sexualität zuführen.” Dieses System bringt die Nervenzellen dazu, den Botenstoff Dopamin ausschütten, mit dem sich ein Gefühl von Freude einstellt. Darüber hinaus ist das Belohnungssystem für die Motivation, etwas zu tun, das Freude bereitet, zuständig. Doch wenn der gewohnte Reiz – das kann ein Computerspiel oder auch das allabendliche Bier sein – nicht mehr ausreicht, sucht das Belohnungssystem bald neue, immer stärkere Reize. „Damit's richtig schön knallt”, wie der Mediziner diesen Teufelskreis beschrieb. Denn das Belohnungssystem gibt sich laut Prof. Dr. Juckel „nicht mit Müsli zufrieden”.
Ob jemand abhängig wird, hängt nach Darstellung des Experten von familiären Belastungen (Genetik und vorgelebtem Verhalten) sowie von sozialen Belastungen und Lebensereignissen ab. Diese Faktoren tragen dazu bei, dass ein Betroffener „nach vermeintlich glückbringenden Reizen” sucht, um sich gut zu fühlen oder ein fehlendes Gefühl zu ersetzen. Über Jahre hinweg kann der Gebrauch von Genussmitteln dadurch zu Missbrauch und schließlich zu einer Abhängigkeit werden. Ob bei der Nummer eins der Drogen in Deutschland – dem Alkohol, bei Glücksspiel- oder Pornosucht – die Mechanismen sind nach Angaben von Prof. Dr. Juckel ähnlich.
Mehr als zwei Bier am Tag: bei Männern "riskanter Alkoholkonsum"
Wer täglich ein Glas Wein oder ein Bier trinkt, gilt allgemein nicht als abhängig. Und dass ein Glas Rotwein pro Tag gut für die Gesundheit ist, dagegen hat Dr. Roser nichts einzuwenden. Werden aus zwei Feierabendbier zum Stressabbau plötzlich drei, spricht der Mediziner bei Männern von einem „riskanten Alkoholkonsum”. Bei Frauen sei die Schwelle zum riskanten Verbrauch aufgrund ihres Körpergewichts niedriger (mehr als ein Bier pro Tag). Um es mit den Worten von Prof. Dr. Juckel zu sagen: „Wenn Sie um zwei Uhr nachts aufstehen, um sich an der Tankstelle einen Sechserpack Bier zu kaufen, sind Sie abhängig!” Die Besucher erfuhren, dass zum Beispiel Cannabis vor allem zu einer psychischen Abhängigkeit führt, während Alkohol sowohl geistig als auch körperlich abhängig macht. Mit gravierenden Konsequenzen: Jährlich sterben 42 000 Menschen an den Folgen ihres Alkoholskonsums.
Die Art des Suchtmittels - ob stoffgebunden (legale Mittel wie Alkohol, illegale wie Cannabis) oder nicht stoffgebunden (Verhaltenssüchte wie Spiel-, oder Kaufsucht) ist bei einer Abhängigkeit unerheblich. Ein Mensch kann genau so süchtig nach Alkohol, Medikamenten oder Cannabis sein, wie nach einem Glücksspiel. Allerdings gibt es laut Dr. Edel „noch keine anerkannte Diagnose und Therapie für Verhaltenssüchte”. Eltern riet der Experte, ihren Zöglingen Computerspiele nicht zu verbieten, sondern die PC-Nutzung zu regulieren. Denn das Fatale bei Verhaltenssüchten sei, „dass Arbeiten, Kaufen und Computernutzung alltägliche Tätigkeiten sind.” Jemand der arbeits-, kauf- oder internetsüchtig sei, könne nicht einfach mit seiner Sucht aufhören.
Verzicht allein genügt nicht
„Abstinenz allein ist keine Lösung”, sagte auch Diplom-Psychologin Gesa Janssen und erläuterte: „Die Sucht erfüllt eine Funktion, die es in der Therapie herauszufinden gilt.” Darüber hinaus kenne das Belohnungssystem kein „nein”. Alkohol-Abhängigkeit sei eine lebenslange Erkrankung, bei deren Bekämpfung es auf die Unterstützung der Angehörigen ankomme.
Hilfe für Betroffene
» Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen www.dhs.de
» Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung www.bzga.de
Alle Vorträge stehen nächste Woche auf der Homepage der LWL-Klinik Bochum unter www.psychiatrie-bochum.de zur Verfügung.