Bochum. Durch die Flure der Ruhr-Universität Bochum soll der Ewige Student geistern. Das Gespenst hat sogar einen Namen: Hajo. So wurde er zum Mythos.
Erstsemester schlendern durch die Gänge, Dozenten mit Büchern unterm Arm streben ins Seminar. Der Hochschulbetrieb in der Betonarchitektur der Ruhruniversität Bochum, abgekürzt RUB, wirkt denkbar nüchtern. Wer würde da auf die Idee kommen, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugehen könnte?
Und doch ist dieser unwahrscheinliche Ort vielleicht die perfekte Halloween-Destination: Denn hier soll es spuken. Wie es heißt, geistert der Ewige Student durch die Katakomben und Treppenhäuser. Hin und wieder sieht ihn jemand vorbeihuschen, aber im nächsten Moment scheint er sich schon wieder in Luft aufgelöst zu haben.
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Den Typus des Ewigen Studenten kennt man wohl an allen Universitäten. Er ist ein meist etwas nachlässig gekleideter Typ, der seit Menschengedenken immatrikuliert ist, häufig auf seinem Stammplatz in der Unibibliothek anzutreffen ist, aber einfach nicht zu Potte kommt. Die Bochumer Ausgabe dieses Ewigen Studenten - Kennzeichen lange Haare, ungepflegte Erscheinung und muffiger Geruch - ist allerdings extrem.
Ewiger Student von Bochum: Das steckt hinter der Legende an der RUB
Sagenforscher Dirk Sondermann hat seine Geschichte vor 41 Jahren erstmals für die Nachwelt festgehalten, nachdem sie ihm ein Examenskandidat aus Bochum erzählt hatte: Demnach arbeitet der Ewige Student schon seit Jahrzehnten an seiner Doktorarbeit. Leider ist ihm bereits vor langer Zeit das Geld ausgegangen und die Wohnung gekündigt worden. Seitdem ist er heimlich in die Gebäude der Geisteswissenschaften gezogen.
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Er übernachtet in den Fachschaftsräumen und Kellernischen des labyrinthischen Hochschulkomplexes, lagert seine wenigen Habseligkeiten in einem Schließfach und putzt sich morgens in einem der Toilettenräume die Zähne. Jeden Tag fürchtet er, von einem der Angestellten oder vom Hausmeister entdeckt zu werden. Erst wenn der Lehrbetrieb ab 8.30 Uhr allmählich losgeht, fühlt er sich sicher.
Erst ein Ewiger Student – jetzt ein Geist
Soweit die Ursprungsversion von 1982. Inzwischen hat sich die Sage weiterentwickelt: Demnach geht der Ewige Student nunmehr als Geist um. Als solcher hat ihn die RUB vor einigen Jahren sogar mal in einem Wimmelbild verewigt. Das Gespenst hat demnach auch einen Namen: Es heißt Hajo.
Dieser Name leitet sich ab von dem Studenten, auf den die Sage wohl zurückgehen dürfte: Hajo Mulsow, geboren um 1935, gestorben 1996. Walter Neumann, der als weißbärtiger Inhaber des Schallplattenladens im Campus Center eine feste RUB-Institution ist, hat ihn noch gekannt.
Hajo hatte nicht viel Geld
Bis zu seinem Tod sei Hajo an der Uni eingeschrieben gewesen, habe ständig unter Geldsorgen gelitten und zeitweise wirklich kein Dach mehr über dem Kopf mehr gehabt, berichtet Neumann. Der AStA habe ihm netterweise Essensmarken für die Mensa spendiert.
Politisch war Hajo klar links zu verorten, sprengte auch schon mal das ein oder andere Seminar mit einer Flugblattaktion oder rief im Beisein der Professoren zum Streik auf. Dennoch habe ihm Kurt Biedenkopf, der spätere CDU-Ministerpräsident von Sachsen, in seiner Zeit als RUB-Rektor öfter mal einen Geldschein zugesteckt, erinnert sich Neumann.
Auch als Hajo einmal eine Veranstaltung mit dem späteren Bundeskanzler Helmut Schmidt gestört habe, habe Biedenkopf das locker genommen, nach dem Motto: „Hajo, komm, jetzt lass mal gut sein.“
Student für immer – Hajo war eingeschrieben bis zum Schluss
„Eingeschrieben bis zum Schluss blieb er wohl hauptsächlich deshalb, weil das Dasein als Student und Berufsrevolutionär zu seinem Selbstverständnis gehörte“, glaubt der Plattenverkäufer. Immerhin habe er aber sein Publizistik-Studium irgendwann beendet. Daran habe er eine Dissertation über Flaschenpost anschließen wollen, doch da sei sein Professor nicht mitgegangen. „Danach hat er nicht mehr den Dreh gekriegt, sondern nur noch rumgehangen.“
Dass Hajo, der fast sein ganzes Leben an der Uni verbrachte, nun angeblich als Geist für immer dort weiterexistiert, hält Dirk Sondermann für eine konsequente Weiterentwicklung zur Sagengestalt. Der Autor zahlreicher Bücher wie „Ruhrsagen“, der es bis zur erfolgreichen Promotion auch auf mehr als 30 Semester gebracht hat, sammelt seit vielen Jahren Sagen aus dem Revier. Ähnlich wie einst die Gebrüder Grimm befragt er dafür Menschen, die schon lange dort verwurzelt sind.
Dirk Sondermann sammelt weitere Sagen aus dem Ruhrgebiet
So erzählte ihm eine alte Frau aus Witten, dass vor Burg Hardenstein bis in die 70er Jahre ein Fachwerkhaus stand, in dem allerdings nie Hausgeburten stattfanden. Der Grund: Noch in der Nachkriegszeit fürchteten Frauen aus der Umgebung den Fluch des Zwergenkönigs Goldemar. Der soll die Burg im Mittelalter verflucht haben, nachdem ihn ein Küchenjunge geärgert hatte. „Das heißt also, diese Sage ist nicht nur als nette Geschichte präsent, sondern mit dem Fluch beschäftigen sich die Leute immer noch.“
Möglich, dass Hajo in 100 Jahren ebenso wie Goldemar zu den mythischen Gestalten des Ruhrgebiets zählen wird. „Wenn er es jetzt schon bis zum Geist geschafft hat, ist er auf dem besten Weg dorthin“, sagt Dirk Sondermann lachend. Populär ist Hajo auf jeden Fall: „Ich habe wirklich Massen von Sagen gesammelt - aber die vom Ewigen Studenten erzielt ohne jeden Zweifel die größte Aufmerksamkeit, bis hin nach Österreich.“
Auf diese Weise ist Hajo trotz aller Lebenskrisen und Misserfolge doch noch unsterblich geworden. Würde ihm das gefallen? Walter Neumann grinst verschmitzt: „Hajo hat immer gern im Mittelpunkt gestanden. Und er hatte Humor. Deshalb glaub’ ich, dass er das ziemlich gut finden würde.“ (dpa)