Bochum. Krisen gehören für Bochums Oberbürgermeister Thomas Eiskirch längst zum Alltag. Im Gespräch zum Jahreswechsel gibt es aber auch gute Nachrichten.
Die Gewerbesteuereinnahmen in Bochum haben mit mehr als 250 Millionen Euro im vergangenen Jahr einen Topwert erreicht. Im Gespräch mit WAZ-Redakteur Thomas Schmitt blickt Oberbürgermeister Thomas Eiskirch (52, SPD) zum Jahreswechsel auf 2022 zurück und gibt einen Ausblick auf 2023. Familien sollen im Sommer im Fokus einer Bürgerkonferenz stehen.
Pandemie, Ukraine-Krieg, Energiemangel - 2022 war kein gutes Jahr. Gibt es trotzdem ein Thema oder ein Erlebnis, auf das Sie mit Freude zurückblicken?
Der Ukraine-Krieg und seine schrecklichen Auswirkungen haben das Jahr dominiert. Es gab natürlich aber auch Anlass zur Freude. Zum Beispiel das Stadtpicknick, bei dem über Hunderttausend Bochumerinnen und Bochumer friedlich mit einem Jahr Verspätung 700 Jahre Bochum gefeiert haben. Auch der Klassenerhalt des VfL Bochum und die Wahl des Schauspielhauses zum Theater des Jahres haben sich bei mir positiv eingeprägt.
Eine Folge des Krieges ist die Aufnahme vieler Flüchtlinge. Wie viele Menschen aus der Ukraine leben in Bochum, wie bewerten Sie die Willkommens-Kultur in der Stadt?
Wir haben mit offenen Armen etwas mehr als 3500 Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen. Trotzdem ist das ein ambivalentes Thema, das mich 2022 sehr bewegt hat. Auf der einen Seite gibt es eine große Solidarität und Hilfsbereitschaft, offene Herzen, offene Arme, Wohnungen werden zur Verfügung gestellt. Es wurde sich wirklich um jeden persönlich gekümmert. Auf der anderen Seite gibt es aber auch das Gefühl, dass in unserer Gesellschaft immer mehr Ellenbogen ausgepackt werden. Pöbeleien im Internet und auf Facebook nehmen zu.
Gibt es noch Kontakte in die Partnerstadt Donezk im Osten der Ukraine?
Schon als ich Ende 2015 Oberbürgermeister wurde, gab es in der Städtepartnerschaft keine offiziellen Kontakte mehr. Mit der Annexion der Krim 2014 sind die offiziellen Kontakte beendet worden. Es ist daher eher eine humanitäre Partnerschaft, um die wir uns insbesondere mit der Gesellschaft Bochum-Donezk kümmern.
Was ist Ihnen 2022 nicht gelungen, was hätten Sie gerne anders gemacht?
Ich hätte gern eine gute Lösung mit der Deutschen Bahn für die Führung des Radschnellweges Ruhr gefunden. Das hat nicht geklappt. Und es gibt sicher das ein oder andere mehr, aber mit einer positiven Grundstimmung schaut man schnell wieder nach vorne und überlegt, was man positiv gestalten kann.
Der Jahreswechsel 2022/2023 bedeutete auch in Bochum für Feuerwehr und Rettungskräfte Schwerstarbeit. Feuerwehr-Chef Simon Heußen spricht sich für ein zentrales Feuerwerk und ein Böllerverbot aus. Was halten Sie davon?
Das ist genauso ambivalent wie die Rückschau in das ganze letzte Jahr. Es gibt eine ganze Reihe von Gründen für ein Verbot: Tierschutz, Feinstaub und Gefährdung von Menschen, weil einige mit Silvesterfeuerwerk nicht umgehen können oder richtig umgehen wollen. Auf der anderen Seite möchte ich mir nicht vorstellen, dass wir uns von einigen wenigen Chaoten bestimmen lassen, was wir tun und was wir nicht tun. Es ist aber letztlich gar keine Frage einer einzelnen Kommune, sondern es bedarf einer bundesweiten Klärung. Klugerweise sollte das Thema aber nicht nach 14 Tagen wieder in der Schublade landen, um 50 Wochen später wieder rausgeholt zu werden. Wir sollten die Vorkommnisse zum Jahreswechsel nutzen, um auf Bundesebene eine generelle Linie zu entwickeln.
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In Bochum gab es zu Silvester zwar keine Krawalle wie in Berlin, Hagen, Essen oder Duisburg, gleichwohl musste die Brüderstraße zwischenzeitlich geräumt werden, weil Polizisten aus einer Menge heraus bedrängt wurden. Mit Blick auf die Örtlichkeit und die Festgenommenen ist die bundesweite Debatte über verfehlte Integration von Menschen aus dem orientalischen Kulturkreis ganz offensichtlich auch ein Bochumer Thema. Was tun Sie, damit es hier künftig keine Berliner Verhältnisse gibt?
Davon sind wir wirklich weit weit entfernt. Gleichwohl sorgt mich das Thema Respektlosigkeit in unserer Gesellschaft. Dabei geht es nicht nur um junge Menschen mit Migrationshintergrund, sondern das ist auch in anderen Zusammenhängen ein Problem. Wir müssen mit diesen Menschen in einen sehr persönlichen Austausch und Diskurs kommen. Demokratie funktioniert nicht dadurch, dass man jemandem sagt, so wollen wir zusammenleben, sondern man muss sich ganz viel Mühe geben und das immer wieder mit Leben füllen.
Auf dem SPD-Parteitag haben Sie das Thema unbegleitete junge Flüchtlinge angesprochen, das die Stadt vor große Herausforderungen stelle. Wie viele leben zurzeit in Bochum und wie wollen sie diese Menschen in die Stadtgesellschaft integrieren?
Es waren so viele, weil alle, die nach NRW kommen, in der Landeserstaufnahmeeinrichtung in Bochum registriert werden. Zurzeit sind es allerdings nur noch etwa 80. Die Zuweisung an andere Städte gelingt mittlerweile deutlich schneller. Mit denjenigen, die wirklich in Bochum bleiben, wird in sogenannten Brückenprojekten an der Integration gearbeitet.
Wie stehen Sie zu dem Vorhaben der Berliner Ampel, Einbürgerungen zu erleichtern?
Ich freue mich über alle, die sich unserer demokratischen Grundordnung zugehörig fühlen und deutlich machen, Deutsche oder Deutscher werden zu wollen. Das ist gut für uns. Wir erkennen doch zunehmend, dass uns unter anderem auf dem Arbeitsmarkt, auf den wir in Bochum viele Jahre mit Sorge geschaut haben, an vielen Stellen Fachkräfte fehlen. Nicht nur in der Metzgerei, in der Bäckerei oder in der Küche einer Gastronomie. Es geht auch um viele hochqualifizierte Kräfte, zum Beispiel in den Krankenhäusern. Insofern freue ich mich über jede und jeden, die neue Einwohnerin oder neuer Einwohner werden will.
Worauf freuen Sie sich 2023?
Da gibt es einiges. Wir sind beispielsweise im Sommer Host Town bei den Special Olympics. Das sind die Spiele für Menschen mit geistiger Behinderung. Wir werden 170 Finninnen und Finnen in Bochum beherbergen. Ich freue mich auch, dass dieses Jahr wieder Veranstaltungen stattfinden, auf die wir wegen Corona jahrelang verzichten mussten. So wird es im Frühjahr wieder einen Stadtputz geben, beim letzten waren mehr als 10.000 Bochumerinnen und Bochumer angemeldet, und wir werden auch wieder eine Bürgerkonferenz durchführen.
Wann und zu welchem Thema?
Auf der Konferenz im Sommer steht die Familie im Blickpunkt – vom Kinderwunsch bis zu pflegebedürftigen Eltern. Es geht um das gesamte Spektrum, das Familie ausmacht. Wir werden im Sommer aber auch den ersten Gesundheitskiosk in Wattenscheid eröffnen und zahlreiche Baustellen in der Stadt werden fertig: das Viktoria-Karree, das Parkhaus P7 am Hauptbahnhof und, was mich sehr freut, die Hattinger Straße.
Wieso diese Freude?
Weil wir nicht nur den Raum neu geordnet haben, sondern mit den eingebauten Rigolen unterirdisch die Ableitung des Wassers ganz neu organisiert haben. Wie in einem Schwamm wird es dort gespeichert und nach und nach an die Bäume abgegeben. Nur überflüssiges Wasser gelangt in die Kanalisation. Neu sein werden dort auch die Protected Bike Lanes (Anm.d. Red.: baulich abgetrennte Radfahrstreifen). Alles in allem ist das eine Straßenbaumaßnahme, wo die Anliegerinnen und Anlieger froh sein werden, wenn alles fertig ist, aber gleichzeitig auch viele innovative Dinge zum ersten Mal in Bochum sichtbar werden.
Sichtbar werden aber auch neue Baustellen. Welche sind die wichtigsten?
Neben dem Viktoria-Karree entsteht im alten Postgebäude das “Haus des Wissens”. Setzen Sie sich mit dem Leuchtturm-Projekt - VHS, Bücherei, Univercity und Markthalle, wie Kritiker sagen, in erster Linie nicht doch nur ein eigenes Denkmal?
Nein, das Thema Denkmäler hat mich noch nie motiviert und es ist auch völlig aus der Zeit gefallen. Es gilt, auch unbequeme Entscheidungen zu treffen, wenn man überzeugt ist, dass sie für die Zukunft richtig sind. Ich glaube, das Haus des Wissens ist für die Zukunft Bochums, und das wird auch politisch so getragen und in weiten Teilen der Bevölkerung so gesehen, eine wirklich wichtige und richtige Entscheidung. Allein Volkshochschule und Stadtbücherei haben jährlich über 800.000 Besucherinnen und Besucher. Dazu werden die Markthalle und die Dachterrasse kommen, das heißt, es wird ein Haus für über weit eine Million Menschen jedes Jahr sein. Volkshochschule und Bibliothek brauchen ein neues Zuhause, das heißt, zu investieren steht gar nicht in Frage, sondern die Frage ist, mit welcher Konzeption man das tut. Wir schaffen dort einen neuen Ort des Wissens und Wissen ist der Treibstoff für die Zukunft unserer Stadt.
Kann Bochum sich dieses Projekt leisten? Wie sieht aktuell die Berechnung der Kosten aus?
Wir gehen weiter von den veröffentlichten 152,6 Millionen Euro aus.
Überall explodieren die Baukosten. Müssen Sie nicht nachrechnen?
Die Gutachter haben bereits einen Puffer eingebaut.
Würden Sie eine Wette darauf eingehen, dass es bei den 152,6 Millionen Euro bleibt?
Ich wette nicht mal auf den VfL – und daran hängt mein Herz.
Auch mit Verweis auf die Markthalle sprechen Sie gern vom Bürgerwillen. Bei der Diskussion um die Freibäder in Langendreer und Höntrop hat Sie der Bürgerwille wenig interessiert. 16.000 Unterschriften zum Erhalt der Bäder haben Sie mehr oder weniger ignoriert.
Wir haben ganz viele Formate der Bürgerbeteiligung neu initiiert, nicht nur die Bürgerkonferenz, sondern auch viel kleinteiliger. Wir haben zum ersten Mal bei Bebauungsplan-Projekten wie beispielsweise Am Hillerbeck, ehemals Gerthe-West, ein Begleitgremium organisiert, in dem sowohl zufällig ausgewählte Bürger als auch Vertreter von örtlichen Initiativen dabei waren. Das geht weit über das gesetzliche Maß hinaus. Das Gleiche gilt für eine ganze Reihe von anderen Dingen. Kein neuer Spielplatz in Bochum wird ohne die Kinder und Jugendlichen in der Umgebung geplant. Es gibt aber auch immer wieder Bürgerinnen und Bürger, die ohne jegliche Legitimation von sich behaupten, sie allein würden den Bürgerwillen zum Ausdruck bringen. Damit meine ich jetzt explizit nicht die Vertreter der Radwende und diejenigen, die sich für die Freibäder eingesetzt haben.
Welche Bürger meinen Sie denn dann?
Es gibt eine kleine Gruppe von Menschen, die egal bei welchem Thema, vor allem ihre ganz persönlichen Sichtweise durchsetzen wollen, sich dazu selbst legitimieren und behaupten, dies sei ein breit getragener Bürgerwille.
Wie stehen Sie denn zur Radwende und Ihren Forderungen?
17.000 Unterschriften machen eindrucksvoll deutlich, dass wir noch viel mehr tun müssen, um die Mobilitätswende in der Stadt spürbar werden zu lassen. Ich hätte mir sehr gewünscht, wenn die Initiatoren des Radentscheids vorher die Beratungshinweise angenommen hätten, damit dieses Rechtsinstrument richtig hätte angewendet werden können. Stadtverwaltungen sind an Recht und Gesetz gebunden. Ich glaube aber, dass der politische Wille vorhanden ist, inhaltlich der Radwende an vielen Stellen zu folgen. Der Maßnahmenplan für 2023 und 2024 ist eine sehr gute Grundlage. Er ist ambitioniert und geht an die Grenze dessen, was wir an Kapazitäten haben.
Und wie verhält es sich bei den Freibädern?
Das ist ein ausgesprochen kompliziertes Thema, und die beiden Fälle in Langendreer und Höntrop liegen ja grundsätzlich unterschiedlich. In Höntrop wollen wir bauen und warten darauf, dass das Gericht sich mit Klagen gegen eine positiv beschiedene Bauvoranfrage beschäftigt. Erst dann wissen wir, ob das, was wir gerne bauen möchten, auch gebaut werden darf. In Langendreer hat es eine Abwägung gegeben. Ich kann gut verstehen, dass man die Entscheidung als Einschränkung wahrnimmt, wenn man Jahrzehnte an den Standort gewöhnt war. Wir haben aber eine Verantwortung für alle Wasserflächen in Bochum und es gibt im Osten eben ein sehr modernes Freibad in Werne und in Bochum keinen einzigen Stadtbezirk mit zwei Freibädern.
2022 war Ihr siebtes vollständiges Jahr als OB. Seit Ihrem Amtsantritt stagnieren die Schulden der Stadt bei 1,7 Milliarden Euro, die Kinderarmut ist um fast 2000 Jungen und Mädchen gestiegen, nach wie vor sind viele Straßen und Bürgersteige in einem miserablen Zustand und es gibt einen eklatanten Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Was läuft schief?
Ich sage Ihnen mal die anderen Zahlen. Wir haben die Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse um 20.000 vergrößert. Das sind fast 20 Prozent mehr als zu meinem Amtsantritt. Wir haben die Anzahl der Baugenehmigungen und der Neubauten signifikant gesteigert. Wir haben die Anzahl des finanziellen Fördervolumens für den sozialen Wohnungsbau verdreifacht. Insofern ist man gut beraten, mit weitem Blick auf Entwicklungen zu gucken und sich nicht selbst Scheuklappen aufzusetzen. Richtig aber ist, sonst wäre die Arbeit ja auch langweilig, es gibt noch jede Menge Dinge, die man anzupacken hat, es gibt aber auch eine ganze Menge Dinge, auf die Bochum durchaus stolz sein kann. Zum Beispiel die wirtschaftliche Entwicklung. Die Gewerbesteuereinnahmen haben sich zum Beispiel seit meinem Amtsantritt von 115 Millionen Euro auf über 250 Millionen Euro im letzten Jahr vergrößert. 2018 haben wir zum ersten Mal einen ausgeglichenen Haushalt gehabt nach über 30 Jahren. Richtig ist, wir haben den gleichen Schuldenstand. Aber wir haben 300 Millionen Euro weniger Kassenkredite und mehr Investitionskredite. Wir haben also investiert und Gegenwerte geschaffen. Bochum steht um 300 Millionen Euro besser da.
Sie sind aber doch auch Familienvater. Wie sehr bedrückt es Sie, dass es so viele arme Kinder in Ihrer Stadt gibt?
Das bedrückt mich sehr. Diese Herausforderung gibt es in ganz Deutschland, sie ist im Ruhrgebiet wegen der Bevölkerungszusammensetzung aber nochmal besonders ausgeprägt. Das A und O kann man zusammenzufassen unter dem Motto, Hartz 4 darf sich nicht vererben. Wir müssen in Bildung investieren. Und das tun wir. Wir investieren in Kitas und Schulen wie noch nie. In Gebäude und in die Lernqualität. Wir werden 217 Millionen in die Schulen investieren und haben 35.000 Tablets angeschafft.
SPD und Grüne haben sich im vergangenen Jahr gleich zweimal einen heftigen Koalitionsstreit geliefert. Stichwort Wohnungsbau und kommunale Investitionen. Insbesondere beim zweiten Mal sollen Sie sich sehr für einen Burgfrieden stark gemacht haben. Haben Sie Sorgen, dass die Grünen 2025 mit einem eigenen Kandidaten antreten und Ihre Wiederwahl dann schwieriger werden könnte?
Ich mache mir mit Blick auf 2025 höchstens Gedanken um die Stadtentwicklung, aber nicht um mich persönlich. Wenn die Koalition sich einmal im Jahr streitet und nach einer Woche den Streit ausgeräumt hat, dann ist das im Vergleich zu anderen Städten ein sehr stabiles Arbeiten hier in Bochum.
Welche Ziele haben Sie denn bis 2025?
Wenn ich in den letzten Jahren eines gelernt habe, dann ist es, dass es keinen Sinn macht, sich zu sehr damit zu beschäftigen, was in drei Jahren ist. Corona-Pandemie, Krieg und Energiekrise zeigen, dass die Zeiträume, die man zuverlässig überschauen kann, immer kürzer werden. Wenn ich mir für 2023 etwas wünschen darf, dann, dass es hoffentlich schnell wieder Frieden gibt, wir die Inflation in den Griff bekommen und der VfL Bochum die Klasse hält.