Gerthe. Vollbeschäftigung, niedrige Steuern, üppiger Mindestlohn: So schön ist die Welt in der Kinderstadt in Bochum. Das Ferienprojekt ist einzigartig.
Der Mindestlohn ist schon erhöht. Arbeitslose gibt’s nicht. Der Steuersatz ist verträglich. Und die Sparkasse gewährt 40 Prozent Zinsen. So schön ist die Welt in der Kinderstadt, die im Kinder- und Jugendfreizeithaus Gerthe entstanden ist. Dabei ist das urbane Treiben an der Hegelstraße durchaus wirklichkeitsnah. Zwist zwischen Bürgermeister und Zeitung inklusive.
Ursprünglich sollte die erste Kinderstadt Bochums mit 100 Jungen und Mädchen in den Sommerferien an den Start gehen. Doch die damaligen Corona-Beschränkungen hätten nur 50 Teilnehmer erlaubt. Das Jugendamt entschied: Wir warten bis zur zweiten Herbstferienwoche, um dann die volle Einwohnerzahl zu erreichen.
Fast 70 Mitarbeiter sind in der Kinderstadt im Einsatz
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Die Rechnung ging auf. „Die 100 Plätze zum Preis von 15 Euro waren in kürzester Zeit vergeben“, berichten Jan Sems und Jan-Philip Albrecht (beide 21), die kurz vor dem Abschluss ihres Sport- und Eventmanagement-Studiums stehen und Leiter der Kinderstadt sind.
Der Aufwand für die Vorbereitung und die Organisation ist für ein Ferienprojekt in Bochum einzigartig. Knapp 70 Mitarbeiter der sechs Kinder- und Jugendfreizeithäuser sind seit Montag in Gerthe im Einsatz. Für die Kinder zwischen sechs und 14 Jahren wurde eigens ein stadtweiter Shuttle-Service eingerichtet. Im „U 27“ (drinnen mit Maskenpflicht) und in den Zelten auf dem Außengelände lernen sie im Kleinen, wie Bochum im Großen funktioniert.
Vom Schreiner bis zum Sanitäter: 20 Jobs stehen täglich zur Auswahl
So wuselig es zugeht: Der Tag ist strukturiert. Um 10.30 Uhr erwacht die Kinderstadt zum Leben. Beim Arbeitsamt können sich die Bewohner bis zu fünf Arbeitsplätze aussuchen. Die Auswahl ist auch dank der mitwirkenden Unternehmen und Einrichtungen groß. 20 Jobs warten: bei der Polizei (mit eigenem Beamten und Streifenwagen) oder bei der Feuerwehr (die am Mittwoch mit einem Löschfahrzeug anrückte), als Elektriker (mit Experten der Firma Securitas), als Bäcker (mit Unterstützung von „Back Bord“), als Gärtner (mit Vonovia als Pate), als Sanitäter in der Teddy-Klinik des DRK, als Koch fürs Mittagessen, als Wissenschaftler im Ruhr-Uni-Zelt, als Schneider (Kissen-Fertigung) und Schreiner (Holzpaletten), sogar als Musikproduzent oder Graffiti-Künstler.
Egal, welche Aufgabe: Der Stundenlohn beträgt einheitlich zwölf „BO-Mark“ – was nicht ganz zufällig dem derzeit von einer Ampel-Koalition angestrebten Euro-Mindestlohn entspricht. Die Auszahlung erfolgt bei der Sparkasse, die gleichfalls Partner der Kinderstadt ist. Sie behält barmherzige zwei BO-Mark als Steuer ein und zeigt sich auch bei der Geldanlage generös: Wer zehn Euro auf die hohe Kante legt, bekommt am Ende 14 Euro zurück.
Bürgermeisterinnen haben für alle ein offenes Ohr
Über die Kinderstadt wachen Charlotte (11) und Luisa (7). Bei der – selbstverständlich geheimen – Bürgermeister-Wahl konnten sie sich mit 30 bzw. 27 Stimmen gegen elf Mitbewerber durchsetzen. In ihrer Wahlkampfrede hatte Charlotte mit einem Höchstmaß an direkter Bürgerbeteiligung überzeugen können: „Wenn ihr Fragen habt, kommt jederzeit zu mir!“
Kinderstadt-Radio geht täglich auf Sendung
Täglich von 10 bis 16 Uhr geht das „Kinderradio Bochum“ (KiRaBo) mit Musik, Interviews und Reportagen auf Sendung. Zu jeder vollen Stunde gibt’s Nachrichten. In der Kinderstadt im Jugendzentrum Gerthe wurde dazu ein Studio mit professioneller Technik eingerichtet.„Für die Projektwoche haben wir eine eigene Frequenz erhalten. Auf UKW 89,4 können uns alle Radiohörer in Bochum empfangen“, sagt Esther Münch, die neben ihren Engagements als Kabarettist („Walli“) und Sängerin als Sozialarbeiterin im „U 27“ arbeitet und das Kinderstadt-Radio leitet.
Dabei sind die Bürgermeisterinnen durchaus eingespannt. Anders als das OB-Original müssen sie neben ihren Amtsgeschäften täglich bis 16.30 Uhr ganz normal arbeiten. Die Freizeitausgaben für Dart, Billard, Tanzen und Kicker (fünf BO-Mark) oder Süßes am Kiosk müssen ja irgendwie finanziert werden.
Was mit den Steuereinnahmen passiert, steht schon fest: Sie werden für den kommenden Samstag (23.) gespart, wenn ab 12 Uhr das große Abschlussfest für die Eltern steigt. Die Einladungskarten werden derzeit in der Poststelle gebastelt.
In der Zeitungsredaktion genießt Rathaus-Chefin nicht den besten Ruf
Charlotte wird dann noch einmal eine Rede halten. Was sie als „echte“ Rathaus-Chefin tun würde, klingt gut. Mehr Grün für die Stadt! Gratis Bus und Bahn fahren! Zwölf Euro Mindestlohn „auch in echt“! Allein: Sie sollte ihre Öffentlichkeitsarbeit optimieren. In der Redaktion des KiMaBo (Kindermagazin Bochum) genießt sie aktuell nicht den besten Ruf. André, einer der Zeitungsredakteure, hat die First Lady interviewt. „Erst musste man ihr hinterlaufen“, mault der Zwölfjährige. „Und dann war sie bei einigen Fragen ziemlich sturköpfig.“
Wie gesagt: Fast wie im richtigen Leben...