Bochum. Packende Neufassung des antiken Klassikers „Ödipus, Herrscher“ am Schauspielhaus Bochum. Steven Scharf in der Titelrolle ist sensationell.
Eine Sophokles-Inszenierung von hoher Qualität ist im Schauspielhaus Bochum zu erleben. Intendant Johan Simons bringt den antiken Klassiker „Ödipus, Herrscher“ radikal entschlackt und formal stimmig auf die Bühne, in der Titelrolle setzt der großartige Steven Scharf ein Ausrufezeichen.
Scharf spielt Ödipus wie einen Kriminalinspektor, der nach der Wahrheit sucht und seinem Schicksal auf die Spur kommen will – ohne zu ahnen, dass ihn die bittere Wahrheit bis ins Innerste erschüttern wird: den Vater getötet, Beischlaf mit der Mutter, zur Erlösung nur fähig, wenn er diese brutalen Tatsachen erkennt, die gleichzeitig sein Untergang sind.
Gedankenspiel in der existenzialistischen Tradition
Der uralte, kontroverse Stoff ist insofern zeitaktuell, als Theben zu jener Zeit, in der die Geschichte spielt, von einer heimtückischen Suche heimgesucht wird; allein die Aufklärung der Zusammenhänge der Tragödie verspricht Erlösung von der Plage. Aber natürlich ist Johan Simons weit entfernt von einer platten Bezugnahme auf Covid-19.
Eher sieht er „Ödipus, Herrscher“ als Gedankenspiel in der existenzialistischen Tradition. Ödipus‘ Mutter und Lebensgefährtin Iokaste wertet nicht, was geschehen ist, sondern nimmt auch das moralisch Unmögliche (Inzest) als für sich gültig an; statt sich, wie im Original, aus Scham und Schande zu erhängen, heißt es bei ihr am Schluss, trotzig wie bei Elton John: I’m still standing. Ödipus dagegen glaubt an den Spruch des Orakels, verzweifelt an den Göttern, und irrt fortan blind durch die Welt. „Viele laufen in ihr Schicksal/gerade weil sie es fürchten“, heißt es am Schluss.
Drama entwickelt sich in kurzweiligen 120 Minuten
In der packenden Aufführung entspinnt sich das Drama in kurzweiligen 120 Minuten auf denkbar zurückgenommene Art. Steven Scharf ist ein penibel fragender Ankläger, ein Advocatus Diaboli in schlabberigem Anzug, der mit verkniffenen Lippen zum Ingenieur des eigenen Verderbens wird. Ausgezeichnet agieren Elsie de Brauw als lebenssatte Iokaste, Pierre Bokma als tastender, blinder Seher Theiresias und Stefan Hunstein als unnachgiebiger Kreon.
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Steven Scharf hat sich binnen kurzem in Bochum den Ruf erarbeitet, mit seiner schauspielerischen Identität und Wandlungsfähigkeit jede Aufführung veredeln zu können. So auch hier, wo er in jeder Szene die passende mimische Nuance findet. Gerade Ödipus‘ Zwiegespräch mit dem blinden Seher ist meisterhaft und dürfte eine der eindringlichsten schauspielerischen Leistungen sein, die seit langem in Bochum zu bewundern waren.
Bedrohlicher Kosmos auf spärlicher Bühne
Die Kraft dieser Schauspieler als Erlebnis zu feiern, liegt nahe, aber auch die Regie ist aller Ehren wert. Simons entwickelt ruhig und behutsam, wie in Zeitlupe und gerade deswegen mit beklemmender Zwangsläufigkeit die alte Geschichte in einem bedrohlichen Kosmos auf spärlichen Bühne (Nadja Sofie Eller), wo die Darsteller mal zu Schattenrissen, mal zu lebenden Requisiten werden. Ein bezwingendes Lichtdesign (Bernd Felder) und die schroffen, ungemütlichen Live-Soundeffekte von Mieko Suzuki überhöhen den Bühnenabend zum Raum-, Licht- und Klangkunstwerk. Den ästhetischen Wert und die Ausstrahlung dieses „Ödipus‘“ kann man kaum überschätzen.
Großer, dankbarer Applaus für das Ensemble und den Intendanten an einem Bochumer Theaterabend, der lange nachklingt.
Termine: 1., 24. November, Tickets 0234 3333 5555