Bochum. Fritz Becker aus Weitmar war im Frühjahr 1945 zwölf Jahre alt. Er erinnert sich an die letzten Kriegstage. Und hütet einen besonderen Schatz.

Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg, eine Zäsur nicht nur in der deutschen Geschichte, sondern auch vor Ort in Bochum. Friedrich „Fritz“ Becker (87) aus Weitmar erinnert sich lebhaft an das Frühjahr 1945. Eine Sammlung vergilbter Flugblätter hilft ihm, die ferne Zeit nochmal aufleben zu lassen.

Von Flugzeugen abgeworfen

Es sind nicht irgendwelche Werbe-Flyer, sondern solche, die alliierte Flugzeuge Anfang 1945 auch über Bochum abwarfen. Sie fordern die Bevölkerung, die kämpfenden Truppen und den so genannten „Volkssturm“ – das letzte Aufgebot des NS-Regimes –zur Kapitulation auf; Tenor: die Einnahme des „Deutschen Reiches“ durch US- und britische Truppen stünde unmittelbar bevor. Widerstand ist zwecklos.

In Klarsichtfolien aufgewahrt

Becker hat sicher 40, 50 solcher Flugblätter, die meist DIN-A-5-Format haben, in Klarsichtfolien verstaut und in einem Ordner abgeheftet. Nun hat er sich wieder einmal hervorgeholt. „Ich weiß selbst nicht, warum ich die Blätter damals gesammelt habe“, sagt er. Es habe „keinen bestimmten Grund“ gegeben. Er war im Frühjahr 1945 zwölf Jahre alt, die Schule war geschlossen, mit seinen Freunden aus der Nachbarschaft strolchte er durch Riemke, wo er damals wohnte.

Geschosshülsen als Spielzeug

„Wir waren den ganzen Tag draußen, die Szenerie in der zerstörten Stadt ist mir unvergesslich. Wir nahmen alles mit, was wir fanden“, sagt er. Die Jungen fanden damals eigentümliches Spielzeug: Alu-Streifen etwa, mit denen die Abwurfsektoren der Bomber markiert worden waren, Geschoss- und Patronenhülsen, zum Teil auch Reste scharfer Munition. Und eben die Flugblätter, die, wie Fritz Becker noch weiß, „überall herumlagen“.

Mitnehmen der Blätter stand unter Strafe

Die Papiere mitzunehmen, war unter Androhung harter Strafen verboten, denn sie gehörten zur psychologischen Kriegsführung, die die Amerikaner und Briten zusätzlich zu den zermürbenden Bombardements der Städte anwandten. Sie sollten die Menschen in Deutschland, die wegen der NS-Zensur und –Propaganda vom objektiven Informationsfluss abgeschnitten waren, über die „Wahrheit“ informieren. Dass nämlich Anfang 1945 der Krieg für Hitler-Deutschland verloren war, und dass die alliierten Verbände jeden Tag ihrem Ziel, der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands, näher kamen.

Warten von Tag zu Tag

„Das habe ich damals alles nicht gewusst“, sagt Fritz Becker, „für uns Kinder war es eine seltsame Zeit, alles war durcheinander, und wir warteten von Tag zu Tag, wie das wohl enden würde.“ Später, als Erwachsener, hat er sich die Flugblätter wieder und wieder angesehen. Und dabei erst verstanden, „um was es wirklich ging“.

So wird auf einem Zettel erklärt, wie man am effektivsten Selbstmord begehen kann, wenn man sich nicht den anrückenden Truppen ergeben will. Oder dass man das Ruhrgebiet – weil Kampfzone – sofort verlassen sollte; wohin, wird nicht gesagt. Oder dass „am 20. Februar 1945“ bereits „1.000.000 deutscher Soldaten in Kriegsgefangenschaft und damit in Sicherheit“ wären.

Extreme Ausnahmesituation

Die Dokumente geben in deutlichen Worten einen Eindruck von der extremen Ausnahmesituation, der die Menschen vor 75 Jahren ausgesetzt waren. „Ich musste im Laufe meines Lebens immer wieder an das Frühjahr '45 denken, es war für mich eine prägende Zeit“, sagt Fritz Becker. Vermutlich ist dieser direkte, persönliche Bezug zur Vergangenheit denn auch der Grund, warum er die Flugblätter auch nach all den Jahren nicht weggeworfen hat.

Im Gegenteil. Seine „Sammlung“ ist erstaunlich gut erhalten, die meisten Blätter sind in gutem Zustand, nur wenig abgenutzt, kaum eingerissen; wie konserviert. Eine Verwendung für die Zeitzeugnisse hat Fritz Becker nicht mehr, und in den nächsten Tagen kommt der Ordner mit den Kriegsfundstücken auch wieder zurück in den Schrank.

Doch heute, am Tag des Kriegsendes, nimmt sich der Bochumer, der später einen Maler- und Anstreicherbetrieb in Weitmar aufbaute, das Konvolut noch einmal vor. Mit seiner Frau Christa sieht Friedrich Becker die Blätter Stück für Stück durch: Weißt Du noch, damals…? - „Es waren schlimme Zeiten, aber nach dem 8. Mai 1945 fing unser Leben erst richtig an.“

>>> Info: Kundgebung um Jahrestag

Die Initiative „Die Vielen“ veranstalten am Freitag, 8. Mai, um 12 Uhr eine Kundgebung vorm Bergbau-Museum, um an den 75. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus zu erinnern sowie ein offenes Europa zu proklamieren.

Mit der Aktion, die bundesweit läuft, sollen der Tag des Kriegsendes (8. Mai) und der „Europatag“ (9. Mai) als Erinnerungs- und Gedenktage im kollektiven Gedächtnis verankert werden.

Die wegen Corona auf 20 Teilnehmer/innen begrenzte Kundgebung besteht aus Vertretern Bochumer Kunst- und Kultureinrichtungen, unter anderem des Schauspielhauses, der Symphoniker und des Bahnhofs Langendreer.

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