Bochum. Vor 75 Jahren schrieb eine Familienmutter aus Bochum bewegende Tagebücher. Die WAZ veröffentlicht sie auszugsweise. Ein bewegendes Zeitdokument.

Diese Tagebücher aus den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges sind ein bewegendes Zeitdokument. Geschrieben hat sie die Familienmutter Gertrud Troost aus Bochum. Unter äußersten Strapazen inmitten einer zerstörten Stadt schrieb die damals 52-Jährige, Buchhalterin der Baufirma Blankennagel, in ihrem Zimmer am Akazienweg in Bochum-Brenschede fast täglich, was sie bewegte, quälte und was sie hoffte.

Ihr Ehemann Ferdinand und ihr Sohn Karl waren im Russlandkrieg, ihre übrige Familie in Bayern. Gertrud Troost lebte allein in den Trümmern. Vor der Stadt standen die Amerikaner. Die WAZ veröffentlicht aus Anlass des 75. Jahrestages der Befreiung erstmals auszugsweise Einträge aus ihrem Tagebuch, das bisher nur ihre Familie kannte.

1. April 1945 (Ostern): Meine Nerven sind zusammengebrochen, wenn ich mit jemand spreche, muss ich weinen, ich kann nichts dazu. Ich habe auch so sehnsüchtig auf Ferdinand gewartet oder wenigstens auf Nachricht von ihm. Und wo mag Karl sein? Ich bin knapp mit Lebensmitteln. Überall wo man hinkommt, hört man, dass ein Widerstand sinnlos ist, alles sagt Schluss machen um jeden Preis, aber im Radio werden wieder größere Töne ausgegeben.

Gertrud Troost , Verfasserin eines Kriegstagebuches in den letzten Kriegswochen in Bochum 1945, im Jahr 1942 mit ihrer Tochter Grete und dem Enkelsohn Hermann 1942.    
Gertrud Troost , Verfasserin eines Kriegstagebuches in den letzten Kriegswochen in Bochum 1945, im Jahr 1942 mit ihrer Tochter Grete und dem Enkelsohn Hermann 1942.     © Familie Zinda

3. April: Ich darf nicht mehr grübeln, sonst untergrabe ich meine Gesundheit vollständig und dann ist gar niemand da, der mich beerdigt.

5. April: Seit wir eingeschlossen sind, fallen keine Bomben mehr. Die Einsamkeit drückt schwer. Aber ich will mich zusammenreißen.

7. April: Auch heute am Tag waren Artillerie und Tiefflieger (Jabos) fleißig am Wirken. Manchmal möchte ich laut aufschreien wegen meiner Einsamkeit, Verlassenheit und so gar nicht wissen, was mit meinen Angehörigen los ist. Die Ängstlichen schlafen im Bunker. Zeitweise wackelt hier die Bude.

9. April: Die Schießerei steigert sich immer mehr.

10. April: Schönes Frühlingswetter. Aber was interessiert der Blütenzauber in diesem schrecklichen Krieg. Einige Stunden im Büro gearbeitet.

„Die Amerikaner sind da“

11. April: Nun ist es so weit: Die Amerikaner sind da. Bochum hat keinen Widerstand geleistet. Wir waren darüber recht froh Als ich um 12 Uhr nach Hause ging, sag ich auf der Königsallee die ersten Thommys bzw. Amerikaner... Überhaupt läuft alles friedlich ab. Ich habe mir so eine Besatzung schlimmer vorgestellt. Die Amerikaner sehen gut wohlgenährt aus. Alles junge Leute. Dagegen unser ausgemergelter Volkssturm. Die Lager sind leer geplündert. Ich darf mich nur keinen Gedanken hingeben, damit ich nicht zum Schluss vor die Hunde gehe.

13. April: Im Weitmarer Holz soll noch schwer gekämpft werden. Wozu dieser sinnlose Widerstand. Die Ruhrwiesen soll voll liegen von toten und verwundeten deutschen Soldaten.

Kameraden liegen tot in den Ruhrwiesen

14. April: Hattingen und Linden haben sich ergeben. Der Krieg ist verloren und das deutsche Volk hat die breite Masse der Leidtragenden. Beim Zahnarzt habe ich heute einen jüngeren Mann getroffen, der ist im rechten Augenblick türmen gegangen. Die Soldaten kamen ja hier durch und er war von hier, er ist schnell nach Hause, hat sein Gewehr und Klamotten vergraben und zivil angezogen. Am anderen Morgen waren die Amerikaner da und jetzt kann ihm niemand was. Seine Kameraden liegen jetzt größtenteils tot in den Ruhrwiesen.

15. April: In Wiemelhausen läuten wieder die Glocken, sonst gibt es ja keine Glocken mehr.

16. April: Wie sorgt sich mein Mutterherz. Und nichts weiß ich, gar nichts, ob ihr alle wohl noch lebt.

18. April: Wie tief sind wir Deutschen gesunken. Eine Frau sagte, ihre Kinder fragen sie, warum man nicht mehr Heil Hitler sagt?

„Die balgen sich um ein Stück Brot wie die Hunde um einen Knochen“

21. April: Beim Brot anstellen lernt man so richtig die deutsche Edelrasse, die Herrenmenschen kennen. Die balgen sich um ein Stück Brot wie die Hunde um einen Knochen.

22. April: Der Luxemburger (Radiosender, Anm. d.R.) sendet ja viel von den Schandtaten, die in Buchenwald passiert sind. Nun hoffentlich erwischen sie die Sadisten.

Gertrud Troost  im Jahr 1985.    
Gertrud Troost im Jahr 1985.     © Familie Zinda

29. April: Hitler soll in den letzten Zügen liegen und Goebbels tot sein. Im Radio betonen sie ja so oft, dass jeder Deutsche für die Schandtaten in den Konzentrationslagern verantwortlich ist. Das Wort, ich bin ja nur ein kleiner Mann, soll keine Geltung haben. Das gefällt mir nicht, denn was konnte der kleine Mann tun? Ferdinand hat beim Umschwung 1933 öffentlich ja so treffend gesagt „braune Mordpest“ und wie schwer hat er dafür gebüßt, wochenlang noch unter den Misshandlungen zu leiden gehabt. Ich schreibe bei Kerzenlicht, der Strom ist immer noch nicht da.

30. April: Goebbels soll tot sein. Hitler einen Gehirnschlag haben. Viel zu schade so ein rascher Tod für diese elenden Lügner, die uns so ins Verderben, in den Hunger gestürzt haben.

Schöne Natur am Akazienweg

5. Mai: Lieber Ferdinand und Karl, wo mögt ihr bloß sein?

7. Mai: Die Woche hat mit schönem Wetter angefangen und es ist hier am Akazienweg wieder sehr schön in der Natur und in der Luft. Aber diese schöne Natur kann ich nicht so recht genießen, weil ich keine verwandte Seele um mich herum habe.

10. Mai: Ich fürchte mich manchmal vor mir selbst, dass ich eines Tages meinen Verstand nicht mehr beisammen habe. In einem Bombenloch im Stadtpark sind Leichen, die wahrscheinlich von der Gestapo dort hineingeworfen wurden (Volksstürmer, die nicht mitmachen wollten). Na wir wissen, dass sie das schon seit 1933 machen.

Mit 97 Jahren gestorben

Die aus München gebürtige Gertrud Troost hatte ihren Mann Ferdinand aus Bochum, µein fliegeµnder Händler, im 1. Weltkrieg als Sanitätshelferin kennengelernt. Sie pflegte ihn in der Pfalz.

Ferdinand Troost starb 1960 in Bochum, seine Frau 1989 mit 97 Jahren. Sie lebte bis zuletzt in Bochum-Riemke.

14. Mail: Ich bin jetzt nach dem 04.11. (schwerer Bombenangriff auf Bochum, Anm d. Red.) so furchtbar arm in allem.

„Ich bin so richtig arm und verlassen“

19. Mai: Politisch sind ja weiter keine Ereignisse eingetreten, nur dass der Hunger „übergroß“ ist. Ich hoffe ja, wenn Ferdinand noch am Leben ist, dass er bald kommt, er ist ja schon ein alter Knabe von 56 Jahren.

Leiden in den KZ-Lagern

21. und 22. Mai: Die Engländer und Amerikaner geben so viel von den Leiden in den KZ-Lagern durch. Wir als Antifaschisten wissen um die Grausamkeiten, konnten uns aber als Einzelne nicht wehren, wenn dies noch nicht einmal bewährte Generäle fertig gebracht haben. Wenn die Amis und Engländer es besser machen sollen, dann müssen sie schon bald sorgen, dass wir etwas zu essen bekommen, sonst liegen auch hier die Hungerleichen auf den Straßen. Ob der Russe besser sorgt?

21. Juni: Es kommen viele Soldaten zurück, aber leider kein Ferdinand, Karl oder Hermann (Schwiegersohn, Anm d. Red.). Ich bin so richtig arm und verlassen.

Hier endet das Tagebuch, sagt Gerhard Zinda (76), Enkel von Gertrud Troost. „Eventuell weil ihr Mann Ferdinand zurückkam. Auch ihr Sohn Karl und Schwiegersohn Herrmann kamen später aus der Gefangenschaft zurück. Zinda lebt in Bayern, sein Bruder Hermann Zinda bis heute in Bochum. Die Familie hat der WAZ freundlicherweise Text und Fotos bereit gestellt.