Bochum. . Melanie* (34) ist Analphabetin. Wie man liest und schreibt, hat sie nie gelernt. Bis sie vergangenes Jahr Hilfe bei der Bochumer VHS bekam.
Lesen und Schreiben – das hat Melanie* nie gelernt. Schon die einfachsten Dinge werden im Alltag der 34-Jährigen zur Hürde. Sie kann nicht mal eben das Handy nehmen und eine SMS schreiben, im Internet nach Rezepten googeln, einen Fahrplan lesen oder ein Formular beim Arzt ausfüllen. Sie ist unselbstständig und auf die Hilfe anderer angewiesen.
Viele Jahre hat die junge Frau das mitgemacht – bis sie einen Entschluss fasste: „Das geht so nicht weiter. Ich muss doch lesen und schreiben können“, findet die Wanne-Eickelerin irgendwann. Sie hört vom Angebot der Volkshochschule (VHS) in Bochum und meldet sich für einen Kurs an. Viel Überwindung hat sie das nicht gekostet. „Ich bin immer offen damit umgegangen. Wenn ich etwas nicht lesen konnte, habe ich das gesagt“, erzählt Melanie.
Analphabetismus gilt noch immer als Tabu
Damit ist sie eher die Ausnahme. Oft schämen sich die Menschen, Analphabetismus gilt noch immer als Tabu. Das weiß auch Ute Vielhaber-Jesse, Ansprechpartnerin für Lese- und Schreibkurse bei der VHS. „Mit Hilfsstrategien verbergen die Menschen, dass sie nicht lesen und schreiben können. Zum Beispiel sagen sie, dass sie ihre Brille vergessen haben. Dabei stehen die Betroffenen enorm unter Druck.“ Fast immer gibt es Mitwissende, die den Menschen helfen. Meist sind das Familienmitglieder oder enge Freunde, die zum Beispiel Formulare ausfüllen.
Das macht der Bochumer Watham Nasel regelmäßig für seine Frau. Vor fünf Jahren ist das Paar aus der Heimat Syrien geflohen, Nasel selbst hat in seinem Heimatland das Lesen und Schreiben gelernt. Im Gegensatz zu seiner Frau. „Sie kam aus einem kleinen Dorf und konnte die Schule nur bis zur fünften Klasse besuchen“, erzählt Nasel.
Aktionswagen machte in der Innenstadt Station
Deshalb hat er in diesen Tagen das Alfamobil in der Innenstadt besucht: ein Aktions-Wagen des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundhilfe, der durch ganz Deutschland fährt. „Ich möchte meiner Frau helfen“, sagt der junge Familienvater über seine Beweggründe. Von Mitarbeitern von Alfamobil und der VHS hat Nasel Flyer und Informationen bekommen. Er ist sich sicher, dass seine Frau den Schritt wagen wird. Um das Lesen und Schreiben zu lernen – und um selbstständiger zu werden.
Jeder zehnte Bochumer kann nicht schreiben
VHS und Alfa-Telefon: Hilfe für Analphabeten
Kostenlose Beratung für Analphabeten gibt es bei der VHS, Gustav-Heinemann-Platz 2-6, freitags von 12 bis 13 Uhr und nach Vereinbarung. Ansprechpartner: uvielhaber@bochum.de oder 0234/ 910-15 29
Donnerstags gibt es bei der VHS zwischen 11 und 14 Uhr ein Sprech-Café, dienstags von 18.30 bis 20 Uhr ein Lese-Café. Das Alfa-Telefon ist erreichbar unter 0800/ 53 33 44 55.
Mit dem Alfamobil möchten die Veranstalter das Tabu Analphabetismus brechen. Laut des Bundesverbandes können 7,5 Millionen der Erwachsenen in Deutschland nicht richtig lesen und schreiben – das ist rund jeder Zehnte. Außerdem hoffen sie, Mitwissende und Betroffene zu motivieren – was schon in einigen Fällen geklappt habe. Es gibt aber viele verschiedene Gründe, warum Menschen den Schritt aus dem Analphabetismus wagen. Kerstin Schnepper vom Alfamobil erklärt: „Wenn der Lebenspartner, der vorher immer geholfen hat, stirbt oder sich trennt, entsteht eine große Lücke.“ Plötzlich kann keiner mehr helfen, Briefe zu lesen. Auch die Einschulung der eigenen Kinder kann der Grund sein, endlich Lesen und Schreiben zu lernen.
Melanie hat irgendwann eingesehen, dass es so nicht weitergehen kann – ohne einen ausschlaggebenden Grund. Seit rund einem Jahr besucht sie zweimal pro Woche die Kurse der VHS, kann mittlerweile einzelne Wörter schreiben. „Wie Baum, Auto oder Blume“, zählt sie auf. „Auch wenn ich mich manchmal noch vertue.“ Die 34-Jährige ist motiviert. Vor ihr liegt noch ein weiter Weg, aber sie weiß, dass sie es irgendwie schaffen kann.
*Name geändert