Bochum. . Bei „Projekt Gerthe“ treffen sich Alkoholiker wöchentlich in der Gruppe. Alternative Bewältigungsstrategien und Offenheit stehen im Mittelpunkt.

„Alkoholiker, ich? Quatsch, die liegen in der Gosse“, hat sich Anne oft gedacht. Bis sie sich eingestanden hat: „Ich bin Alkoholikerin und habe ein Problem.“ Zunächst hat sie sich damit einsam gefühlt. Aber in der Selbsthilfegruppe, zu der sie in Gerthe gefunden hat, hat sie gemerkt: Horst, Angela, Wolfgang, Kalle und all den anderen geht es genauso.

Angst vor dem Rückfall

Wenn Anne sich daran erinnert, wie sie auf jeder Fete betrunken war oder wie sie Nudeln, Tomaten und Rotwein in den Einkaufskorb legte, nur um den Schein zu erwecken, sie wolle mit dem Alkohol kochen, dann weiß sie: „Jeden Montag werde ich daran erinnert, dass es doch ganz schön schlimm war und der Grat wieder abzurutschen schmal ist.“

Die etwa 15 Mitglieder treffen sich wöchentlich für zwei Stunden und widmen sich dann einer Vorstellungsrunde, einem Gefühls-Blitzlicht, der Wochen-Reflexion und einem Besprechungsthema. „Wir reden etwa über Rückfälle, Ängste, Jobs und Beziehung“, sagt Horst.

Stets gehe es darum, andere Bewältigungsstrategien als den Alkohol zu finden. „Es ist wie eine Börse aus Erfahrungen – jeder bringt etwas ein und nimmt sich, was er braucht“, so Horst, der seit Gruppengründung dabei ist. „Ich fühle mich hier aufgehoben. Man lernt wieder Mensch zu sein – außerhalb der Käseglocke der Therapie“, findet Angela.

Ziel ist eine zufriedene Trockenheit

Die Besonderheit der Gruppe: Ganz trocken sein muss man nicht. „Rückfälle gehören dazu. Es ist ok, wenn jemand mit Fahne kommt“, sagt Kalle daher. Alkoholiker zu sein, sei nicht schlimm, schlimm sei es nur, nichts dagegen zu tun.

Die Anonymität gibt den Betroffenen die Sicherheit, mit offenem Visier zu sprechen. „Schämen muss sich hier niemand“, betont Lisa. „Trockenheit ist eine Seite der Medaille, aber eine zufriedene Trockenheit braucht Zeit und Arbeit“, sagt sie weiter. In der Gruppe reflektiere man sich selbst, erhalte Feedback und werde mit jedem Problem ernstgenommen.

Gruppe ist bunt gemischt

„Der klassische Weg beginnt mit dem Punkt, an dem man nicht mehr kann. Dann kommen Entgiftung und Therapie. Schon da muss man sich überlegen, wie es weitergehen soll“, erklärt Martin. Eine Selbsthilfegruppe biete da Unterstützung. Im Bezug auf den Alkohol sitzen alle in einem Boot, sonst ist die Gruppe bunt gemischt: Männer und Frauen mit und ohne Entgiftungserfahrung, ehemalige Opelaner ebenso wie Stadt-Mitarbeiter, „Quartalssäufer“ bis „Gewohnheitstrinker“.

„Ein Alkoholproblem hat nicht nur mit der Menge zu tun, sondern heißt, dass man den Alkohol braucht“, sagt Kalle. Einigkeit herrscht beim Thema Abstinenz. „Ein bisschen schwanger geht auch nicht“, sagt Anne. Der Gedanke ,Morgen höre ich auf’ sei ein Trugschluss.

Selbsthilfegruppe ist nicht nur für Betroffene da

Die Selbsthilfegruppe wurde 1987 von einer Stationsärztin und einer Sozialpädagogin im St.-Maria-Hilf-Krankenhaus gegründet. Damals hatte das Krankenhaus noch eine Entgiftungsstation und sorgte so für die Patienten nach.

Die Gruppe ist nicht nur für Betroffene offen, auch Angehörige und solche, die sich unsicher sind, ob sie ein Problem haben, sind herzlich willkommen.

Unter www.projekt-gerthe.de finden sich weitere Informationen. Neben den wöchentlichen Treffen veranstaltet die Gruppe zum Beispiel Weihnachtsfeiern.

Auch Wünsche an ihr Umfeld haben die Betroffenen. „Verständnis dafür, dass es eine Krankheit ist und keine Haltung, sich einfach gehen zu lassen“, sagt Martin. Dass das Umfeld Bescheid weiß, finden die Betroffenen wichtig. „Mein Arbeitgeber kennt mein Problem “, sagt Angela. Das sei erleichternd. „Die Sucht ist Arbeit: Besorgen, Ausreden, verstecken“, sagt sie weiter. Man bilde sich ein, niemand merke etwas. Damit man nicht ständig etwas angeboten bekommt, sei Ehrlichkeit der beste Weg. „Früher wollte ich mich nicht im Spiegel ansehen. Heute sage ich: Guten Morgen Horst, ich lieb’ dich“, lacht Horst. Für ihn ein Riesenerfolg.

„Sucht ist ein schleichender Prozess“ 

Die Diplom-Sozialpädagogin Ellen Buchholz arbeitet in der Fachabteilung „inechtzeit“ bei der Bochumer Krisenhilfe. Sie möchte einen verantwortungsvollen Umgang mit Alkohol vermitteln. Im Gespräch erklärt sie, wo beim Alkohol Genuss aufhört und Missbrauch anfängt.

Wie viele Bochumer leiden unter einer Alkoholabhängigkeit?

Buchholz: „Leider haben wir keine veröffentlichten Zahlen. Man könnte sich dem über die Belegungszahlen der Entgiftungsstationen oder den Beratungsvorgängen bei Kontaktstellen nähern, aber es gibt keinen verlässlichen Überblick. Wir wissen nur, dass bundesweit schätzungsweise 1,8 Millionen Menschen in Deutschland alkoholabhängig sind und weitere 1,6 Millionen riskante Konsummuster haben.“

Wo liegt die Grenze zwischen Genuss und Problem?

„Sucht ist ein schleichender Prozess. Er kann bei Genuss beginnen und über Missbrauch bis hin zur Abhängigkeit führen. Genuss bedeutet beispielsweise, dass Alkohol nur zu besonderen Gelegenheiten, in beschränkten Mengen und auf genussvolle Weise konsumiert wird. Riskant wird es, wenn Alkohol getrunken wird, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen und unangenehme Gefühle wegzudrücken oder um mit Stress umzugehen. Missbrauch heißt dabei auch, soziale und gesundheitliche Folgen in Kauf zu nehmen – wie etwa einen Kater.

An bestimmten Zeitpunkten in diesem Prozess, kann man mit seinem Willen gegen den Reiz des Alkohols ankommen, später geht die Kontrolle verloren.“

In welcher Form leisten Sie Präventionsarbeit?

„Wir sind eine Fachabteilung der Krisenhilfe e.V. in Bochum. Dazu zählt unter anderem eine Fachstelle für Suchtvorbeugung, die legale und illegale Süchte abdeckt. Als solche wollen wir Menschen einen genussvollen und verantwortungsbewussten Umgang mit Alkohol vermitteln.

Das passiert beispielsweise in Workshops mit Schülern und Schülerinnen, bei Elternabenden zum Thema Alkoholprävention und bei Fortbildungen für pädagogisches Fachpersonal.“