Bochum. Menschen mit Zwangsstörungen treffen sich seit einem halben Jahr zur Selbsthilfe. Trotz Neugründung ist der Zulauf schon rege.
Bei Gefängnissen denken wir normalerweise an Straftaten, Verbrecher und Kriminalität. Barbara aber hat ihr persönliches Gefängnis im Kopf, unsichtbar für ihr Umfeld. Sie ist nicht hinter Gittern weggesperrt, aber doch wird sie gefangen gehalten – von ihren Gedanken.
„Habe ich den Kühlschrank geschlossen? Sind die Fenster zu? Sind die Stecker gezogen? Ist der Herd aus?“, nennt Barbara nur einige der Fragen, die ihr ständig durch den Kopf gehen, bevor sie das Haus verlässt. Immer und immer wieder muss die 55-Jährige ihre Wohnung kontrollieren, kann dadurch kaum das Haus verlassen und am sozialen Leben teilnehmen. „Zwänge sind eine Zwangshaft“, beschreibt sie. Die Angst sei ein ständiger Begleiter.
Wichtig: Gut zuhören können
Kathrin geht es ähnlich: „Ich habe panische Angst davor, etwas zu verlieren und viele Gedankenzwänge.“ Dazu zählen Lese- und Buchstabierzwänge ebenso wie zwanghaftes „magisches Denken“. Was sich zauberhaft anhört, ist es ganz und gar nicht: „Ich befürchte, dass ich mit meinen Gedanken etwas Schlimmes anrichte, wenn ich schlecht über andere Personen denke“, erklärt Kathrin.
Seit sie 14 Jahre alt ist kämpft die 33-Jährige gegen die Zwänge. „Ich habe lange nach einer Selbsthilfegruppe gesucht. Bei Gruppen für Depressionen habe ich mich nicht richtig aufgehoben gefühlt, auch wenn das oft mit einer Zwangsstörung einhergeht“, sagt sie. Auch in Nachbarstädten wurde sie nicht fündig. „Ein Mitarbeiter der Selbsthilfe-Kontaktstelle hat mir dann eine gemeinsame Gruppengründung vorgeschlagen.“
Treffen zweimal im Monat
Nach anfänglicher Unsicherheit gründeten sie die Gruppe. „Zu Beginn gab es viel zu klären: Ist die Gruppe nur für Betroffene oder auch Angehörige? Wo trifft man sich? Wie arbeitet man?“, erinnert sie sich. Mittlerweile hat die Gruppe einen festen Kern aus acht Personen, die sich zwei Mal monatlich treffen und sagen: „Wir sind nicht alleine.“
Barbara sagt: „Ärzte und Psychologen können uns verstehen, aber mitfühlen können sie nicht.“ In der Selbsthilfegruppe hat sie genau das gefunden. „Als Mitglied einer Selbsthilfegruppe muss man gut zuhören können“, weiß sie. Dass das jemand tut, hilft den Betroffenen, denn ihre Krankheit halten sie vor dem Umfeld oft geheim. „Bei mir wissen es nur sehr wenige, ich bin Ausredenkünstlerin geworden“, sagt Kathrin. Und Barbara ergänzt: „Warum ich oft zu spät zur Arbeit kam – nämlich, weil ich meine Wohnung so lange kontrollierte – das habe ich meinem Arbeitgeber nicht gesagt.“
Die Ursachen sind vielfältig
Meistens moderiert Barbara die Sitzungen. „Am Anfang erzählt jeder, wie es ihm geht und wie die vergangenen Wochen waren. Oft ergibt sich daraus Redebedarf zu Themen wie Therapeuten, Arbeitgeber oder Kliniken“, sagt sie. Bald käme auch ein Facharzt als Redner zu Besuch. Trotz des Gemeinschaftsgefühls unterscheiden sich die Mitglieder: Während der Eine mit Waschzwängen kämpft, leidet der Andere unter Kontrollzwängen. Auch die Ursachen sind vielfältig: familiäre Probleme, Traumatische Erfahrungen, krankhafter Perfektionismus. „Wie kann ich gut mit den Zwängen leben?“ ist die Frage, die die Gruppe beantworten will und über die sie sich austauscht. Dazu gehören sogar Tipps, welche Rechte man beispielsweise als kranker Student im Studium hat. Kathrin rät den Betroffenen: „Sich trauen, Hilfe suchen. Es lohnt sich.“
>>„Zwangserkrankungen sind sehr gut therapierbar“
Prof. Dr. Georg Juckel ist ärztlicher Direktor des LWL-Universitätsklinikums. Die Klinik für Psychiatrie bietet eine Spezialsprechstunde für Zwangsstörungen.
Viele kennen es, den ausgestellten Ofen zwei Mal vor Verlassen der Wohnung zu kontrollieren. Wann wird daraus ein Zwang?
Prof. Dr. Georg Juckel: „Es kann schwierig sein zu unterscheiden, wo es sich noch um eine alltägliche Kontrollfunktion handelt und wo ein Verhalten krankhaft wird. Zum Teil kann man das an der Quantität festmachen, Patienten mit einer Zwangsstörung verbringen viele Stunden am Tag mit ihrem Zwang und er beeinflusst das Alltägliche. Das trifft auf Kontrollzwänge ebenso zu wie etwa auf einen Putzzwang oder Gedankenzwänge. Damit verbunden ist ein subjektives Leiden der Betroffenen und zunehmend auch der Angehörigen. Wenn der Zwangskranke seinem Impuls nicht folgt, verspürt er starke Unruhe oder Angst.“
Wo liegen die Ursachen einer Zwangsstörung?
„Es gibt mehrere Hypothesen. Die Genetik spielt eine kleinere Rolle. Gesichert ist, dass das Serotonin-System, ein Botenstoffsystem im Gehirn, gestört ist. Dort herrscht langfristig eine niedrige Aktivität. Dadurch kommt es in bestimmten Arealen des Gehirns zu einem Wegfall von Hemmung, was zu Zwangsgedanken und –handlungen beitragen kann. Es wird vermutet, dass in den sogenannten Basalganglien, die sehr tief im Gehirn liegen und für die motorischen Aktivitäten im menschlichen Organismus zuständig sind, funktionelle Schwierigkeiten vorliegen, welche wiederum andere Hirnareale in ihrer Funktion stören. Noch nicht gut gesichert ist die Vermutung, dass bei Menschen, die früh eine Streptokokken-Erkrankung durchgemacht haben, Gehirnareale leicht geschädigt wurden, die dann später mit zur Entstehung der Zwangsstörung beitragen. Zu den biologischen Faktoren kommen psychosoziale Belastungsfaktoren, biografische und psychische Faktoren.“
Wie sieht psychotherapeutische Hilfe bei Zwängen aus?
„Wir behandeln kombiniert: Einerseits erfolgt eine Medikation, die in das gestörte Serotonin-System eingreift, andererseits setzen wir auf kognitive Verhaltenstherapie. Dabei geht es darum, das falsch gelernte Verhalten aufzulösen und die Angst und Unruhe auszuhalten. Der Lernerfolg des Patienten ist es, dass diese Gefühle irgendwann weggehen. Zwangserkrankungen sind dadurch heute sehr gut behandelbar.“
Wie kann das Umfeld unterstützend wirken?
„Ein bestimmter Grad an Zwangssymptomatik muss unbedingt professionell behandelt werden. Angehörige können Betroffene motivieren, sich in Behandlung zu begeben. Zwangsstörungen sind heimliche Erkrankungen, unter denen circa zwei Prozent der Bevölkerung leiden. Sie entwickeln sich langsam, im Schnitt erreichen Patienten erst zehn Jahre nach Ausbruch der Störung das Hilfesystem. Es ist kontraproduktiv, Betroffene in ihrem Zwang zu unterstützen und dabei zu helfen eine Wohnung zu kontrollieren, besser ist etwa Ablenkung durch Gespräche, gemeinsames Hinausgehen und ähnliches.“