Bochum. . Mitglieder von Overeaters Anonymous eint das problematische Verhältnis zum Essen. In einem 12-Schritte Programm kämpfen sie für ein freies Leben.

1960 fragten sich in Kalifornien drei Esssüchtige: „Was den Anonymen Alkoholikern hilft, hilft das auch uns?“ Sie probierten es aus und stellten fest: Ja. Overeaters Anonymous (OA) war geboren. Fast 60 Jahre später gibt es weltweit tausende Gruppen – eine davon in Bochum. „Hier existiert OA seit 15 Jahren“, sagt Ralph, der an Ess-Sucht leidet. Gemeinsam mit anderen Essgestörten (Magersucht, Ess-Brech-Sucht und Ess-Sucht) trifft er sich wöchentlich in den Räumlichkeiten der „OASE“ an der Ruhr-Universität.

„Ich war erleichtert, als ich endlich verstanden habe: Es ist eine Krankheit und nicht nur mangelnde Willenskraft. Andere erleben exakt dasselbe“, sagt Stephanie, die an Esssucht leidet. Auch wenn die junge Frau, die ihr gegenübersitzt, magersüchtig ist, fühlt sie ähnlich: „Für mich war wichtig zu merken, dass ich nicht schuld an meiner Magersucht bin“, sagt Jana.

Bundesweites Netz

Im Gesprächskreis können sich die Beiden öffnen. „Ich habe mich gedanklich nur noch mit Essen und Nicht-Essen beschäftigt. Auch mein soziales Leben ist darum gekreist“, erinnert sich die 22-jährige Jana. Dass sie magersüchtig ist, habe sich nicht nur am rapiden Gewichtsverlust gezeigt: „Die Sucht hat mich jeden Tag begleitet. Ich konnte nicht alleine dagegen ankämpfen“, sagt sie.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von einem externen Anbieter, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Nach mehreren Klinikaufenthalten fand sie durch den Tipp einer Bekannten zu OA. „Das Besondere ist, dass es sich um ein großes Netzwerk handelt, Gruppen treffen sich im ganzen Land verteilt“, so die Studentin.

Zwölf-Schritte-Programm

Genau davon hat Katja, die vor fünf Jahren an Bulimie erkrankte, profitiert. „Man kann selbst entscheiden, wann man welche Form der Unterstützung braucht. Man ist nicht von einem Therapeuten abhängig“, sagt sie. Dabei sind die Schritte und Werkzeuge, um herauszufinden, was eigentlich hinter der Sucht steckt, vielfältig. „In den Treffen spricht man der Reihe nach, die Anderen hören zu. Das Gesagte bleibt im Raum stehen“, sagt Ralph.

Themen wie Jobs und Freundeskreis würden ebenso respektiert wie Angst vor Fressdruck oder Kalorienzählen. Entsprechend der zwölf Schritte stehe jeder Monat unter einem anderen Motto. „Wir teilen Erfahrung, Kraft und Hoffnung. Ich erweitere so meinen Blickwinkel“, sagt Katja. Sie könne bei OA so sein, wie sie ist.

Von Essplan bis Sponsorschaft

Zu den Werkzeugen der Genesung zählt die Gruppe auch Ess- und Aktionspläne, das Niederschreiben von Gedanken oder die sogenannte Sponsorschaft. „Ein Sponsor ist jemand, der auf dem Weg der Genesung schon weiter ist, und mich unterstützt“, sagt Jana.

„Der Wunsch, etwas zu verändern ist die einzige Voraussetzung, um mitzumachen. Man braucht keine Diagnose“, sagt Ralph. Ob es hilfreich sei, müsse letztlich jeder selbst herausfinden. „Früher konnte ich mich unter Fressdruck beim Essen nicht unterhalten. Ich habe entweder über die Stränge geschlagen oder nur sehr unregelmäßig gegessen. Heute ist das unproblematisch“, vergleicht er.

Auch wenn die 12 Schritte mit Begriffen wie „höhere Macht“ etwas komisch anmuteten, mit einer Sekte habe OA nichts zu tun. „Man muss auf der körperlichen, emotionalen und spirituellen Ebene genesen“, erklärt Ralph. Man fühle sich der Sucht wie einer „höheren Macht“ ausgeliefert. „Heute bin ich freier. Das soll so bleiben und ich will es auch weitergeben“, sagt Ralph.

>>> Das Zwölf-Schritte-Programm

Schritt 1-4: Am Anfang stehen das Eingeständnis der Sucht, der Glaube an eine höhere Macht, die die geistige Gesundheit zurückgeben kann, das Vertrauen auf Gott und die Inventur des eigenen Selbst.


  • Schritt 5-8: Es folgen das Zugeben der begangenen Fehler, die absolute Bereitschaft an diesen Fehlern zu arbeiten und die Bitte an Gott, diese Mängel zu nehmen und die Entschädigung der Mitmenschen.

  • 9-12: Zum Schluss geht es um die Wiedergutmachung im sozialen Umfeld und die Fortsetzung der Inventur. Gelernt wird, die Hilfe an andere weiterzugeben.

  • >>> Interview mit Dr. Stephan Herpertz (LWL-Klinik)

    Essen ist gesellschaftlich ein riesiges Thema. Ab wann spricht man nicht nur von einer Auffälligkeit, sondern von einer Sucht etwa im Sinne einer Magersucht oder Ess-Brech-Sucht?

    Prof. Dr. Stephan Herpertz, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des LWL-Universitätsklinikums Bochum der Ruhr-Universität Bochum.
    Prof. Dr. Stephan Herpertz, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des LWL-Universitätsklinikums Bochum der Ruhr-Universität Bochum. © Ralf Rottmann

    Prof. Stephan Herpertz: Ein Kriterium dafür, dass man sich im krankhaften Bereich befindet, ist der Leidensdruck der Betroffenen und die Tatsache, dass sie nicht alleine aus dem Sog der Gewichtsabnahme bzw. des ständigen Diätens herauskommen. Beide Essstörungen zeichnen sich durch eine verzehrte Körperwahrnehmung bzw. Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper aus und der hartnäckigen Überzeugung zu dick zu sein. Die Konsequenz ist rigides Diäten mit dem Ziel einer deutlichen Gewichtsabnahme. Im Gegensatz zur Bulimie kennt die Magersucht dabei keine Grenze nach unten. Für die Bulimie sprechen Essattacken mit dem Gefühl des Kontrollverlustes, gefolgt von gegenregulatorischen Maßnahmen wie rigides Diäten, Erbrechen, exzessiver Sport oder Abführmittelmissbrauch. Eine Diät hingegen ist kein hinreichendes Kriterium: Millionen von Menschen machen in Deutschland jährlich Diäten, aber nur 0,1 bis 1 Prozent erkranken an einer Magersucht.

    Was ist das Schwierige bei der Behandlung von Essstörungen?

    Normalerweise geht man zum Arzt, wenn man leidet. Besonders bei der Magersucht ist aber das Paradoxe, dass zunächst das Umfeld zu leiden beginnt. Den Betroffenen fehlt zumindest initial oft ein Leidensdruck und damit eine Krankheitseinsicht, was die Voraussetzung für eine Psychotherapie ist.

    Sind aus Ihrer Sicht Selbsthilfegruppen bei Essstörungen sinnvoll?

    Nur unter bestimmten Umständen, dann nämlich, wenn es sich um eine angeleitete Selbsthilfegruppe handelt, die z.B. auf der Basis eines Behandlungsmanuals arbeitet und dabei professionelle Hilfe erfährt. Von nicht-angeleiteten Angeboten rate ich ab. Angeleitete Angebote können hilfreich sein, allerdings nicht bei schweren Essstörungen. Da muss eine ambulante Psychotherapie, unter Umständen ein stationärer Aufenthalt erfolgen. Die Magersucht hat die höchste Todesrate aller psychischen Erkrankungen, bei einer so schwerwiegenden Erkrankung ist spezialisierte Hilfe notwendig. Betroffene mit Bulimie können von einer angeleiteten Selbsthilfegruppe profitieren, allerdings zeitlich limitiert. Sollte eine Besserung der Essstörungssymptomatik ausbleiben, gilt es, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Je kürzer die Essstörung besteht, desto besser sind die Heilungsaussichten.