Bochum. Die digitale Welt birgt zunehmende Suchtgefahren. Davor warnten Fachärzte beim WAZ-Medizindialog. Online-Spiele tragen das größte Risiko.
Die digitale Revolution lässt immer mehr Verlierer, immer häufiger Leid, Verelendung, Verzweiflung zurück. Die dunklen Seiten der Online-Welt beleuchtete der WAZ-Medizindialog am Dienstagabend im Blue Square, dem Hörsaal der Ruhr-Universität in der Innenstadt.
„Die neuen Süchte – Gefahr für viele“, hatte Prof. Georg Juckel das WAZ-
Forum überschrieben. Der Direktor des LWL-Klinikums warnt vor allem vor Online-Spielen. Eine Million Menschen gelten bereits als abhängig. Meist männlich. Meist jung. Mit Problemen, die sich alsbald massiv auftürmen, in Schule und Beruf, in der Partnerschaft (falls noch vorhanden), mit Übergewicht, Vereinsamung und Verdummung (die Experten sprechen von „digitaler Demenz“).
Der Grat zur Sucht ist schmal. Der Abgrund lauert, wenn PC oder Smartphone alles Leben und Denken bis hin zu Entzugserscheinungen, Kontrollverlust, Suizidgefahr bestimmen. Selbsterkenntnis? Selten, sagt Juckel. Meist sind es Angehörige und Freunde, die – endlich – professionelle Hilfe vermitteln.
Anlaufstelle in der LWL-Klinik
Bereits 2012 hat Bert te Wildt dafür eine Anlaufstelle in der LWL-Klinik geschaffen: die Medienambulanz. Der Bedarf ist immens. Das Heer der „Digital Junkies“, wie der Psychiater seine Klientel nennt, wird stetig größer. Besonders alarmierend sei die Entwicklung bei den 14- bis 16-Jährigen. Bis zu acht Prozent seien in dieser Gruppe internetabhängig, schätzt der Facharzt. Bei männlichen Jugendlichen deutlich führend: die Spielsucht. Die Mädels sind häufiger im Netz der sozialen Medien gefangen, in denen Likes und Follower die wichtigsten Selbstwert-Währungen sind. Männer mittleren Alters macht te Wildt als größte Risikogruppe für Cybersex – sprich: Porno-Portale – aus. Meist Frauen erliegen der ungehemmten Online-Kaufsucht, alle gemeinsam den Video-Streamings Marke YouTube, denen der Facharzt ein zunehmendes Suchtpotenzial zuschreibt.
„Wer die Grenze zur Abhängigkeit überschritten hat, kommt ohne Therapie nicht davon los“, sagt te Wildt. Dabei gehe es nicht darum, das Internet aus dem Leben zu verbannen. In Einzel- und Gruppenstunden werde ein kontrollierter Umgang geübt; wenn auch mit Totalabstinenz für die Suchtmacher, etwa Spiele oder Pornos.
Eltern sollen klare Regeln setzen
Während te Wildt anregt, bei der Altersfreigabe von Online-Spielen nicht nur Gewalt und Sex, sondern auch die Suchtgefahr einzubeziehen, appelliert Juckel an das Verantwortungsbewusstsein der Eltern, Es gelte, klare Regeln aufzustellen und konsequent einzuhalten. Kinder zwischen vier und fünf Jahren sollten täglich maximal 30 Minuten, zwischen sechs und neun Jahren bis zu 60 Minuten online spielen dürfen, Bei Kindern ab zehn Jahren seien bis zu neun Stunden pro Woche erlaubt. Und: „Seien sie selbst Vorbild, sagt te Wildt. Längst seien es auch die Kinder, die sich darüber beschwerten, dass Mama und Papa kaum noch von ihren Smartphones aufblickten.
Wenn Glücksspiele ins Unglück führen
Die ersten Gewinne. Die ersten Glücksgefühl. Die erste Hoffnung: Jetzt wird alles besser. Dr. Aleksandra Kulik kennt die Anfänge einer Spielsucht aus ihrer täglichen Arbeit. In der LWL-Psychiatrie behandelt die Fachärztin Menschen, die ihre Abhängigkeit von Glücksspielen in tiefes Unglück stürzt.
Die Zahlen, die Aleksandra Kulik beim WAZ-Medizindialog nennt, sind alarmierend. 1340 Bochumer gelten als spielsüchtig, weitere 1500 Bürger als „problematische“ Spieler. Roulette und Black Jack im Casino, Poker online, Automaten in der Spielhalle, Sportwetten in den Wettbüros: Vielfältig sind die Möglichkeiten, seiner Zocker-Leidenschaft zu frönen. Verhängnisvoll die Folgen.
Aus dem Spielen wird Gewohnheit
Siehe oben: Es fängt meist harmlos an. Mit der „ersten Lust“, so Dr. Kulik, die Lust auf mehr macht. Impulsive Männer und Menschen mit schwachem Selbstwertgefühl seien besonders gefährdet. Vor allem sie geraten in einen Teufelskreis, aus dem es höllisch schnell kein Entrinnen mehr zu geben scheint. Aus dem Spielen wird Gewohnheit, Den ersten Gewinnen folgen höhere Einsätze – und hohe Verluste. Kredite müssen her. Alles Geld dient als Spielkapital. Dabei steht der Verlierer von Anfang an fest. Probleme im Job, in der Partnerschaft münden in Schuldgefühlen und Hoffnungslosigkeit. Die einzige Flucht bietet – ausgerechnet – das Spielen, die Fantasiewelt, in der der Spieler bis zuletzt glaubt, die Kontrolle zu haben, „alles zu durchschauen“, zu allererst die Automaten. Und kläglich scheitert.
Wie bei der Internetabhängigkeit seien es meist Angehörige und Freunde, die den Teufelskreis durchbrechen und – oft gegen heftige Widerstände – Unterstützung organisieren. „Ist das geschafft, kommt meist auch der Spieler selbst zur Einsicht: Ich bin süchtig, ich brauche Hilfe.“ Der erste, der einzige Weg zum wahren Glück.
>>Infos und Hilfe: www.onlinesucht-ambulanz.de (mit Selbsttest) und
www.fv-medienabhängigkeit.dewww.check-dein-spiel.de,
www.gluecksspielsucht-nrw.de