Bochum. . Immer mehr Eltern sind psychisch krank. St.-Vinzenz-Verein und LWL-Klinik kümmern sich um die Schwächsten, die so stark sein müssen: die Kinder.
Immer mehr Menschen leiden an psychischen Erkrankungen. „Entsprechend steigt die Zahl der psychisch kranken Eltern – und damit der betroffenen Kinder“, sagt Prof. Georg Juckel, Ärztlicher Direktor des LWL-Universitätsklinikums. Das Schicksal und die Versorgung dieser Jungen und Mädchen in den öffentlichen Blickpunkt zu rücken, ist Ziel einer Fachtagung am 8. März im St.-Josef-Hörsaalzentrum.
Die Entwicklung ist alarmierend. Jeder dritte Erwachsene wird im Laufe seines Lebens von einem psychischen Leiden heimgesucht. Heißt: Depressionen, Angststörungen, Suchterkrankungen (meist Alkohol und Drogen) hinterlassen in Zehntausenden Bochumer Familien oftmals furchtbare Spuren.
Hohes Erkrankungsrisiko bei den Kindern
„Sind ein oder gar beide Elternteile erkrankt, sind die Leidtragenden immer die Kinder“, weiß Georg Juckel. In ihrem Alltag, in einem Umfeld, das häufig von Verzweiflung, Verwahrlosung, mitunter auch Gewalt geprägt ist. Und wegen einer bedrohlichen Perspektive: „Heranwachsende mit psychisch kranken Eltern tragen ein vierfach höheres Risiko, später selbst zu erkranken“, warnt Juckel.
Das Leben in Extremen, das Fehlen von Zuwendung und Fürsorge, das viel zu frühe Hineindrängen in eine Erwachsenenrolle, in Verantwortung für Eltern, Haushalt, Geschwister, bildet seelische Narben.
Offene Sprechstunde für Eltern
Prävention tut not; möglichst schnelles, professionelles Eingreifen, wie es in Bochum „modellhaft“ (Juckel) praktiziert wird. Die LWL-Klinik arbeitet seit zehn Jahren mit dem St.-Vinzenz-Verein an dieser Aufgabe. Psychiatrie-Patienten, die Kinder haben, werden auf das gemeinsame Angebot mit der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung hingewiesen.
In der Klinik an der Alexandrinenstraße unterhalten das LWL-Team und St. Vinzenz eine 14-tägige offene Sprechstunde für Eltern. In den Vereinsräumen am Imbuschplatz gibt es zwei Gruppen für Kinder psychisch kranker Eltern: eine für Jungen und Mädchen im Grundschulalter, die andere für Kinder ab elf Jahren.
Jeweils sechs bis sieben Kinder kommen pro Gruppe zusammen. Von einem „Schonraum, in dem sie sich öffnen können und wieder Kind sein dürfen“, spricht Jan Hildebrand, Leiter des Ambulanten Jugendhilfezentrums. „Die Kinder begreifen: Ich bin nicht allein. Vielen anderen geht es ähnlich wie mir.“ Und das vielleicht Wichtigste: „Sie verlieren mit der Zeit das Gefühl, selbst schuld an der Situation zu sein.“ Neue Kraft, neuer Lebensmut für Kinder, die viel zu schnell erwachsen geworden sind.
Der Bedarf ist noch riesengroß
Zehntausende Betroffene und zwei Gruppen für ein gutes Dutzend Kinder, auf die u.a. auch das Jugendamt und die Erziehungsberatungsstellen zurückgreifen: „Was wir hier machen, ist natürlich ein Tropfen auf dem heißen Stein“, weiß Heilpädagoge Hildebrand. „Wir würden gern noch viel mehr tun“, ergänzt St.-Vinzenz-Leiterin Petra Funke.
„Der Nachholbedarf ist riesig, gerade auch wegen des Mangels an niedergelassenen Therapeuten mit Wartezeiten von einem halben Jahr“, bekräftigt Juckel. So gebe es für Kinder unter sechs Jahren gar keine Angebote.
Krankenkasse hat Gruppenangebote zertifiziert
Immerhin: Die Bedeutung der Gruppenarbeit ist in Fachkreisen längst unumstritten, wie der große Zuspruch auf die Fachtagung zeigt. Und auch die erste Krankenkasse hat sich überzeugen lassen: „Die AOK hat die Gruppenangebote als präventive Gesundheitsfürsorge zertifiziert. Sie stehen deshalb allen gesetzlich Versicherten kostenlos zur Verfügung“, so Petra Funke.
Dabei geht es auch um die Eltern. Starke Kinder stärken auch sie, geben Motivation, sich gegen die Krankheit zu stemmen. „Ich kann die Gruppen nur empfehlen“, sagt ein betroffener Vater im WAZ-Gespräch (Bericht unten). „Da wird wertvolle Arbeit geleistet.“
>>> Ein Familienvater berichtet, wie die Treffen in St. Vinzenz seiner Tochter (8) geholfen haben
2017 wirkte Caroline (Name geändert) in einem Theaterstück des St.-Vinzenz-Vereins mit. Sie spielte eine depressive Mutter, die – umringt von vergammelten Pizzakartons – kaum mehr von der Couch hochkommt; die Glotze läuft im Dauerbetrieb Die Achtjährige beherrschte die Rolle aus dem Effeff: Nicht nur ihre Mama, sondern auch ihr Vater ist psychisch krank.
Die Grundschülerin zählte im vergangenen Jahr zu den Kindern, die in den Gruppen des St.-Vinzenz-Vereins betreut werden (Bericht oben). „Die Treffen haben ihr total gut getan“, schildert Vater Christian und berichtet von einer Traumfamilie, die sich alsbald in einem Albtraum wiederfand.
Er arbeitet als Lehrer, seine Frau als Betriebswirtin. Zwei Kinder kommen zur Welt. Vor drei Jahren gerät die Ehe in eine massive Krise. Beide Eltern erkranken an Depressionen. Dem Ehepaar zieht die Trennung den Boden unter den Füßen weg. Die Kinder drohen, ihren sicheren Hafen zu verlieren.
Sozialarbeiterin unterstützte die Familie
Hilfesuchend wendet sich der Vater 2015 an den St.-Vinzenz-Verein. „Wir erhielten prompt Unterstützung. Eine Sozialarbeiterin kam regelmäßig nach Hause und kümmerte sich um die Kinder.“
Ein halbes Jahr später findet sich für Caroline ein Platz bei den St.-Vinzenz-Gruppenstunden für Kinder psychisch kranker Eltern. „Für Caroline war das ungeheuer wertvoll“, sagt der 40-Jährige im WAZ-Gespräch. Das Reden mit den Profis und Kindern, die Gewissheit, mit ihren Problemen nicht allein zu sein, habe dem aufgeweckten Mädchen „sehr geholfen“. Vor allem bei ihren Schuldgefühlen, selbst für die Situation daheim verantwortlich zu sein. „Das ist jetzt verschwunden. Das hat sie verstanden.“ Vielleicht auch durch das Theaterstück, in dem die Schüler ihre oft leidvollen Erfahrungen auf der Bühne künstlerisch verarbeiten – und so verstehen lernen.
Kontakt hält bis heute an
Wie alle Kinder musste Caroline die Gruppe nach einem Jahr verlassen. Den Kontakt zu den St.-Vinzenz-Freunden indes hält sie bis heute: „Es macht immer Spaß, hier zu sein“, sagt sie.
Ob es für die Familie ein Happy End gibt, ist offen. Die Eltern leben inzwischen getrennt. „Wir sind mitten im Prozess“, sagt der Vater. Und seine Tochter lächelt tapfer.
>>> Profis versichern: Wir tun alles, damit die Familien zusammenbleiben
So hilflos zahlreiche psychisch kranke Eltern sind, so groß ist vielfach ihre Angst, ihre Kinder zu verlieren, wenn sie professionelle Unterstützung suchen.
„Dabei ist die Furcht in aller Regel unbegründet“, versichert St.-Vinzenz-Leiterin Petra Funke. Erstes Bemühen sei es, „die Familie zusammenzuhalten und bei der Versorgung der Kinder alle Ressourcen zu nutzen: von der Familie bis zur Nachbarschaft“. Die Gruppenangebote könnten dabei eine wertvolle Ergänzung sein.
Infos: St.-Vinzenz-Verein, Imbuschplatz 11; 0234/ 913 10; LWL-Universitätsklinikum, Alexandrinenstraße 1, 0234/ 507 70.