Grumme. . Jugendliche aus Bochum machen Selbstversuche im Rollstuhl. Sie wollen wissen, wie es ist, behindert zu sein. Tipps bekommen sie von einem Profi.

Du bist ja behindert! Die Konfirmandinnen und Konfirmanden im Bezirk Johanneskirche, Kirchengemeinde Bochum, kennen diese Äußerung fast alle als Schimpfwort aus der Schule.

Aber wie ist das, wenn man plötzlich selbst „behindert“ ist, weil man im Rollstuhl sitzt? Für die 19 Jugendlichen im Alter von zwölf bis 13 Jahren war das eine ungewöhnliche Erfahrung, als sie im Konfirmandenunterricht das Thema „Leben mit Handicap“ und Vorurteile behandelten.

„Das war zunächst gar nicht so einfach“

„Das war zunächst gar nicht so einfach, weil die Bewegungen ganz anders sind und man schon bei kleinen Schwellen hilflos festhängt. Von Bordsteinkanten ganz zu schweigen“, bekannte Jason (13) im Anschluss. Nach ein paar Übungen und Spielen mit Rollstuhlfahrer Lothar van Beek, der auch die 15 genutzten Aktivrollstühle mitbringen ließ, fand es Jason zwar anstrengend für die Arme, ansonsten aber cool. Für Leon und Luke (beide zwölf) war die Fahrt in dem Rollstuhl gar nicht so schlimm. Aber ein Leben ohne Rollstuhl sei natürlich besser.

Nach dem spielerischen Einstieg, bei dem die Konfirmanden zunächst zögerlich, später mit viel Elan durch die Johanneskirche fuhren, wurden Lothar van Beek und Pfarrer Volker Rottmann ernst. „Wenn man eine Steigung hoch muss, freut man sich, Beine zu haben“, bekannte der 61-Jährige, der durch einen Motorradunfall in den Rollstuhl kam. Auch für alle Alltagsverrichtungen sei das viel einfacher.

Das Besondere weckt Neugier

Nach wie vor werde er oft angestarrt, doch dazu erklärte der Rollifahrer abgeklärt: „Unter normalen Menschen bin ich eine Ausnahme. Das Besondere weckt die menschliche Neugier.“ Auch das Schimpfwort „behindert“ mache van Beek keine Probleme mehr: „Ja, das bin ich. Ich lebe mit diesem Handicap so wie andere schlecht rechnen oder lesen können“, sage ich heute.“ Früher sei er in solchen Fällen verletzt gewesen.

Den Jugendlichen riet der Groß- und Einzelhandelskaufmann deshalb, das Wort nicht mehr zu benutzen. „Wenn ich alles zum Schimpfwort mache, wie kann ich dann etwas Nettes sagen?“, erklärte er.

Rottmann berichtete am Beispiel der Nationalsozialisten, wie schnell ein Schimpfwort zu Gewalt führen kann. „Behinderte waren anders. Sie konnten nicht arbeiten. Sie passten nicht in das arische Rassenbild von Adolf Hitler und seiner Partei. Viele von ihnen wurden deshalb damals umgebracht“, erinnerte er. Die Jugendlichen, die durch die Schule bisher nur den Holocaust an den Juden kannten, forderte er auf, einzutreten für Menschen, die anders sind. Eben auch für Behinderte. Rottmann: „Mit der Werkstatt Constantin und einem Wohnheim der Lebenshilfe arbeiten und leben auch einige im Stadtteil.“

Pfarrer Volker Rottmann lud Lothar van Beek zum Thema „Leben mit Handicap - anders sein“ ein. Die Konfirmanden hatten damit ein authentisches Gegenüber. Ihre Selbstversuche mit dem Rollstuhl vertieften diese Erfahrung, behindert zu sein.

>>> Mit zur Selbstständigkeit

Van Beek kommt immer wieder ehrenamtlich in den integrativen Jugendtreff „Sit down“ des Stadtteilladens Grumme. Dort bietet er Kurse zum Rollstuhlfahren an.

„Eltern sind schnell überfordert, wenn ihr Kind in den Rollstuhl muss“, sagt er dazu. Den betroffenen Kindern will er mit den Kursen Mut machen, weitgehend selbstständig und aktiv am Leben teilzunehmen.